Zwischen Euroskepsis und föderalistischem Fundamentalismus

Noch heuer sollen die wesentlichen Entscheidungen über die Neukonstruktion Europas getroffen werden. 
In Verviers, etwa 1,5 Fahrstunden von Brüssel entfernt, hat der Vorstand unserer Fraktion über die zukünftige Gestalt Europas diskutiert. Ausgehend von den Entwicklungen über Beschlüsse bzw. eher Nicht-Beschlüsse von Nizza haben wir darüber diskutiert, wie die Beratungen über eine Neukonstruktion in Europa in den kommenden Jahren ablaufen sollen und was das Ziel dieser Beratungen sein soll.

Die Neukonstruktion Europas

Noch heuer sollten darüber die wesentlichen Entscheidungen getroffen werden. Nach einer ersten Stellungnahme des Parlaments zu Nizza müsste der Gipfel in Göteborg die grundsätzlichen Weichenstellungen vornehmen. Sodann müsste das Parlament im Herbst zu Nizza und zu den Vorschlägen der Regierungschefs in Göteborg eine „endgültige“ Stellungnahme abgeben. Während der belgischen Präsidentschaft müsste dann schliesslich der Start für die Beratungen über die Zukunft der EU erfolgen.
Diese sollten dabei in einer Art Konvent, also unter stärkerer Beteiligung von Abgeordneten aus dem Europaparlament und den nationalen Parlamenten, erfolgen. Die demokratisch gewählten Vertreter der Bewohner Europas sollten dabei das wesentliche Wort haben. Von diesem Konvent aus müssen natürlich auch viele Kontakte mit der Bevölkerung selbst und den Organisationen der Zivilgesellschaft ausgehen.
So weit, so gut. Bei einem Arbeitsessen am Abend ging es dann allerdings hoch her. Einige Mitglieder, vornehmlich aus den EU-Gründungsländern, ergänzt um Vertreter aus Spanien und Portugal, haben Vorschläge für ein starkes, supranationales Europa gemacht. Einige waren schon vorher informiert worden, anderen Mitgliedern des Vorstandes wurden die Vorschläge erst am Abend präsentiert, sodass sie diese nicht wirklich lesen oder analysieren hätten können.

Selbsternannte Avantgarde

Der Inhalt der Vorschläge, zum Beispiel die Umwandlung der EU-Kommission in eine Regierung oder eine verstärkte Zusammenarbeit der EURO-Länder, vor allem die Form der „diskriminierenden“ Zusammensetzung der Autoren und der Verteilung des Papiers haben viele erzürnt. Als schliesslich einer von uns, der generell sehr supranational denkt – ausser wenn es um sein eigenes Land geht -, meinte, es hätte etwa gar keinen Sinn, Briten zu einer solchen Diskussion einzuladen, da diese ohnehin nichts konstruktives zur Debatte beizutragen hätten, konnten einige mit ihrem Zorn und Unmut nicht mehr hinterm Berg halten.

Offenes Kerneuropa

Ich selbst habe in den vergangenen Wochen immer wieder betont, dass mit der Erweiterung der EU, wie sie in Nizza angedacht wurde, und ohne allgemeine Bereitschaft zur Vertiefung nichts übrig bleibt, als jenen, die es so wollen, ein Kerneuropa innerhalb der EU in Form einer verstärkten Zusammenarbeit zu bilden. Dieses muss aber allen (!) offen stehen. Alle Mitgliedsländer müssen eingeladen werden, bei diesem Projekt mitzuarbeiten und niemand sollte das Gefühl haben, er sei von dieser Diskussion ausgeschlossen. Genau das aber haben jene vermittelt, die das „informelle“ Papier über den „neuen Föderalismus“ vorgelegt haben.
Abgesehen davon, dass Föderalismus in einigen Ländern weniger übernationale Entscheidungen bedeutet, ist dieses Verhalten einer selbst ernannten Avantgarde nicht gerade vertrauensbildend. Es handelt sich also ein bisschen um ein Abbild einer Situation, die im Falle einer verstärkten Zusammenarbeit entstehen kann. Und es zeigt sich, wie sensibel diese Fragen sind und mit welcher Sensibilität man hier vorgehen muss, damit aus dem Kerneuropa keine Kernspaltung entsteht!
Verviers, 2.2.2001