Zypriotischer Grenzgang

Wird die harte, unmenschliche Grenze – die letzte derartige in Europa – in Zyperns Hauptstadt Nicosia bald verschwinden?
Ich sitze hier im Schatten des Kulturzentrums „Archelangelos“ des Klosters Kykkos nahe der zypriotischen Hauptstadt Nicosia. Das Weltforum der Religionen und Kulturen hat mich gemeinsam mit der Kultur-Olympiade 2001 – 2004 eingeladen, bei einer Diskussion ein kurzes Referat zu halten. Wie bei vielen großen Konferenzen ist auch hier viel Allgemeines und Uninteressantes zu hören – allgemeine Erklärungen von Bischöfen und staatlichen Vertretern aus aller Welt. Aber auch hier gilt: Der Wille zählt fürs Werk.
Einmal mehr stand auch in Nicosia die Ablehnung des Irakkrieges im Mittelpunkt der Diskussionen. Das allein reicht jedoch nicht, um dem Weltfrieden näher zu kommen. Wenn auf der einen Seite die politische Macht, massiv unterstützt vom bestgerüsteten Heer, steht und auf der anderen Seite der Friedenswille und die Humanität, dann ist klar, wer gewinnt.

Grenzüberschreitungen

Die Einladung, nach Zypern zu kommen, erreichte mich jedenfalls zu einer besonders spannenden Zeit. Das Land wird am 1. Mai 2004 Vollmitglied der EU, zumindest der griechische Teil. Inzwischen hat aber die Türkei den „türkischen“ Teil nicht vollständig annektiert, sondern den Führer der Türken auf Zypern gedrängt oder zumindest ermutigt, die Grenzen zum griechischen Teil zu öffnen – und zwar sowohl für die türkische als auch für die griechischen EinwohnerInnen. Und viele machen täglich davon Gebrauch, nicht zuletzt, um ihre alten Häuser zu besuchen. Übereinstimmenden Berichten zufolge werden sie von den „türkischen Nachfolgern“ freundlich empfangen und bewirtet.
Manchmal sind die Häuser so geblieben, wie sie verlassen wurden. Keiner weiß allerdings, wie es jetzt weitergehen soll. Wer wird welche Ansprüche erheben – auf Rückkehr bzw. Rückerstattung? Und was ist mit den zwischenzeitlichen Eigentümern? Wie trennt man zwischen den türkischen Zyprioten als berechtigte Langzeitbewohner und den massiv aus dem Festland zugewanderten Türken?

Zusammenwachsen

Wie immer es auch sei, ich glaube kaum, dass die Entwicklung rückgängig gemacht werden kann. Die Situation erinnert mich frappant an die DDR kurz vor ihrem Ende. Aus dem Druck- und Dampfablassen mittels zeitweiliger und schließlich totaler Öffnung der Grenzen wurde die Beseitigung der innerdeutschen Grenze überhaupt. Zwar handelt es sich auf Zypern um zwei verschiedene Völker mit verschiedener Sprache, Kultur und Religion. Aber die letzten Tage haben gezeigt, dass sie dennoch viel lieber zusammen leben wollen als getrennt.
Daher glaube ich, dass auch diese harte, unmenschliche Grenze – die letzte derartige in Europa – bald verschwinden wird. Ich hoffe es jedenfalls, wenn ich die langen Autoschlangen jener unzähligen Menschen sehe, die in den türkischen Teil fahren wollen. Wie immer auch die Zukunft dieser Insel im Konkreten aussieht und welcher Fahrplan entwickelt wird: Offene, passierbare Grenzen sind allemal humaner und mit Europa vereinbarer als geschlossene. Aber natürlich hoffe ich, dass bei meinem nächsten Besuch die bestehenden Stacheldrahtverhaue und Betonmauern mitten durch Nicosia verschwunden sein werden.
Nicosia, 3.5.2003