FREIHEIT UND TOLERANZ*

Freiheit ist genauso wie Toleranz ein vielfältiger und dehnbarer Begriff. Und so wie man Toleranz nicht sinnvoll ohne Akzeptanz denken kann – oder jedenfalls sollte, so ist die Freiheit des Einzelnen nicht ohne Rücksicht auf Nachbarn und die Gemeinschaft umsetzbar. Freiheit ist nicht die Möglichkeit, tun und lassen zu können was man will, ist also nicht mit Willkür und Egoismus zu verwechseln. Leider findet man heute immer wieder Kräfte, die Freiheit mit weitgehender Ungebundenheit verwechseln.

Freiheit des Einzelnen ist daher immer auch mit der Freiheit der Anderen verbunden. Toleranz und Akzeptanz der gesellschaftlichen Vielfalt ist ein wesentliches Element der Gesellschaft freier Menschen.

Das Ende der Geschichte?

Nach dem Ende der kommunistischen Welt im Osten Europas verkündete – der durchaus interessante und lesenswerte Wissenschaftler – Francis Fukuyama das Ende der Geschichte. Damit war der „endgültige“ Sieg der liberalen Wirtschaftsordnung mit seinen vielen Freiheiten gemeint. Heute wissen wir es besser, denn viel ist seit dem Beginn der Neunziger Jahre passiert. Vom Ende der Geschichte und einem ungebremsten Siegeszug der Freiheit kann keine Rede sein.

Die kapitalistische Wirtschaft erfuhr eine schwere Finanzkrise mit horrender Arbeitslosigkeit. Nicht zuletzt diese hat den Populismus befeuert, der seinerseits auf die globalen Zusammenhänge und Zwänge als Ursache für alles Übel verwiesen hat. Damit im Zusammenhang steht auch die Abwehr von Flüchtlingen und generell Ausländern, die den „Einheimischen“ Arbeitsplätze rauben und soziale Unterstützung auf sich umlenken.

Die Nostalgie als Sehnsucht nach den besseren Zeiten der Vergangenheit, die es allerdings nie wirklich gab, hat die Stelle der Vision und der Hoffnung eingenommen. Und wie Mark Lilla richtig feststellte, die Hoffnung kann enttäuscht werden, die Nostalgie nicht. Vielleicht ist sie gerade deshalb so hartnäckig.

Durch Technologie zur Neuen Welt – Connected Isolation

Aber auch die Gurus des Silicon Valleys haben uns eine neue Welt voll Glück und Freiheit vorausgesagt und versprochen. Und sie tun das immer wieder mit neuen Entdeckungen und Verheißungen. Inzwischen sind uns aber die neuen technologischen Entwicklungen und ihre potentiell negativen Auswirkungen auf unsere Freiheit stärker ins Bewusstsein getreten.

Das betrifft nicht nur die neuen Medien, vor allem die sogenannten sozialen Medien, sondern auch die Automatisierung und Roboterisierung in der Arbeitswelt. Es sind diese neuen Technologien, die dazu beitragen, was der Philosoph Peter Sloterdijk „Connected Isolation“ bezeichnet. Wir leben immer mehr über Facebook, Twitter, Snapchat etc. in Verbindung mit Fremden aus der ganzen Welt aber gleichzeitig oftmals isoliert von unserer unmittelbaren Umgebung. Diese Isolierung kann zu einer Flucht in eine Parallel- und Scheinwelt führen – mit gefährlichen Tendenzen zu aggressivem Verhalten.

Und die Automatisierung in den Betrieben isoliert uns auch in und von der Arbeitswelt. Der Mensch droht zu einem Instrument der Maschinen zu werden. Wie jemand spaßhaft(?) formulierte: die neuen Betriebe brauchen nur mehr einen einzigen Arbeiter und einen Hund. Der Arbeiter muss den Hund füttern und der Hund passt auf, dass der Mensch den Maschinen/Robotern nicht zu nahe kommt. Aber letztendlich könnte auch ein Roboter den Hund füttern – aber wozu braucht man dann einen Hund?

Wenn aber die Arbeit – weil nicht mehr vorhanden – aufhört, den Menschen Anerkennung und Sinn zu geben, wo holt er/sie sich dies. Das führt entweder zur Depression oder zur Suche nach Bedeutungsgewinn in der fiktiven/ digitalen Welt der sozialen Medien. Die sind ohnedies darauf angelegt wesentlich zur Suche nach Selbstüberschätzung und Selbstoptimierung beizutragen. Das Selfie ist nur ein Ausdruck des Kults um einen Selbst. Wie sollen aber die Menschen einen gesellschaftlichen Zusammenhalt erzeugen bzw. finden, wenn sie entweder in die „Bedeutungslosigkeit“ getrieben werden oder in die Selbstüberschätzung?

Unvermeidliche Entwicklungen?

Vielfach versuchen ExpertInnen uns einzureden, daß all diese Entwicklungen unausweichlich sind und wir uns dem Fortschritt fügen müssen. Auf der anderen Seite jedoch betonen – andere – Wissenschaftler, dass auch wirtschaftliche und technologische Entwicklungen gesteuert oder zumindest deren Auswirkungen beeinflusst werden können.

Damit stellt sich die Frage, wie wir bzw. die Gemeinschaft, der Staat, die EU etc. im Namen der Freiheit steuernd eingreifen sollen, ohne dabei aber die Freiheit unangemessen zu beschränken bzw. gar zu zerstören. Der Kommunismus hat es jedenfalls nicht geschafft.

Der Populismus, der letztendlich meist darauf hinausläuft, autoritäre Strukturen und Persönlichkeiten zu fördern, schafft es auch nicht. Da müssen wir gar nicht in die USA schauen, bleiben wir im europäischen Raum. Von Ungarn über Polen bis in die Türkei können wir unterschiedlich starke und gefährliche Auswirkungen der autoritären Systeme sehen. Und die Proteste in Rumänien und Serbien sind auch Proteste für Demokratie und Freiheit, die dort gefährdet sind.

Gemeinsamer Gestaltungswille

Viel schwieriger sind die Versuche, die Freiheit angesichts globaler wirtschaftlicher und technologischer Trend durchzusetzen. Gerade hier wäre aber Europa aufgerufen, sich zwar nicht als Verhinderer aber als Gestalter bzw. wo notwendig als Schutzmacht ins Spiel zu bringen. Tatsächlich tut sie das auch, aber wahrscheinlich nicht in genügendem Ausmaß. Die Nationalstaaten sind jedenfalls überfordert, wenn es gilt solche globale Entwicklungen zu steuern und zwar zum Wohle der Menschen, die Europäische Union hat aber durchaus entsprechende Möglichkeiten.

So meinte unlängst Slavo Zizek: „In der globalen kapitalistischen Welt bietet sie das einzige Modell, das über die Autorität verfügt, nationale Souveränität zu begrenzen und ökologische und sozialstaatliche Standards zu garantieren….. Europa ist zwar in der neuen, globalen Welt verschrien als ein alter, erschöpfter, irrelevanter Kontinent, der in den heutigen geopolitischen Konflikten nur eine Nebenrolle spielt. Aber wie unlängst Bruno Latour sagte: ‚Europa ist allein, aber allein Europa kann uns retten.'“

Peter Sloterdijk bring es auf den Slogan: „Getrennte Vergangenheit, gemeinsame Zukunft“. Durch diese Formel soll auch deutlich werden, dass Identitätspolitik ohne evolutionäre und futuristische Komponente unrealistisch ist“. Die Festlegung auf eine – nationale – Identität ist im Übrigen eine Einschränkung der Freiheit, die ja von den Möglichkeiten zehrt, mehrere Identitäten fruchtbringend einzusetzen: die persönlichen, die lokale, die religiöse etc.

Was erwarten sich die BürgerInnen?

Damit ist aber noch nicht gesagt, was konkret zu tun ist und wie demokratische Systeme die Freiheit in den Mittelpunkt ihrer Politik stellen sollen. Jedenfalls muss das so geschehen, dass die Menschen – mehrheitlich – das Gefühl haben, daß ihre wesentlichen Interessen nach einer wertvollen Ausbildung, nach einem erfüllenden Job und einem fairen Einkommen, die bestimmenden Ziele der Politik sind. Unterstützung bei der Gründung der Familie und bei der Erziehung der Kinder kommen dazu und natürlich auch eine entsprechende Altersversorgung. Persönliche Freiheit ist damit auch(!) ein Resultat gemeinschaftlicher, staatlicher Interventionen. Das scheint alles in Europäischen Wohlfahrtsstaaten selbstverständlich zu sein,  ist es aber heute nicht.

Fehlen diese Unterstützungen und fühlt man sich von ihnen ausgeschlossen, dann sucht man politische Alternativen und insbesondere starke Führungspersönlichkeiten, die all das versprechen und die Hoffnung wecken, dass sie es auch liefern können. Erfolgreichen Persönlichkeiten aus der Wirtschaft werden dabei oftmals bevorzugt, scheinen sie doch schon bewiesen zu haben, dass sie Resultate liefern können.

Die – wie Ivan Krastev es richtig formuliert – „kosmopolitischen Eliten“ haben allzu oft vergessen, die Erwartungen aber auch Enttäuschungen der unteren und mittleren gesellschaftlichen Schichten anzusprechen. Die nationalistischen und populistischen Eliten – denn auch hier handelt es sich um Eliten – nutzen diese aus, um mit ihren meist einfachen Slogans und Rezepten die WählerInnen für sich zu gewinnen.

Und die Wirtschaft: Arbeitnehmer und Unternehmer?

Was nun die Wirtschaft betrifft, so sind die Erwartungen sehr widersprüchlich. Die einen sehen in der Wirtschaft, vor allem in den Konzernen die Quelle allen Übels. Die anderen sehen in den Vorschriften und Regulierungen unangemessene und ineffiziente Einschränkungen der Freiheit. Nun, Märkte sind Lebenselixier für erfolgreiche Unternehmungen und auch im Interesse der KonsumentInnen. Aber auch sie bedürfen Regelungen, um Chancengleichheit und Wettbewerb zu garantieren und soziale sowie ökologischen Ziele zu erreichen. Aber diese Regelungen dürfen nicht zur Strangulierung führen. Sie müssen im Gegenteil Initiativen, Innovationen und Kreativität fördern.

Die Arbeitnehmer wiederum befürchten, dass die neuen Technologien von der Überwachung bis zur Automatisierung sie in noch stärkere Abhängigkeit oder gar um ihren Arbeitsplatz bringen. Aber durch Verbote wird man meist nichts erreichen können. Dennoch, über neue Formen der Arbeitsteilung und neue gesellschaftliche Arbeiten wird man nachdenken müssen, will man ausgedehnte Arbeitslosigkeit und Untätigkeit generell vermeiden.

Und die junge Generation erwartet sich einen freien Zugang zu den sozialen Medien ohne Zensur aber doch mit der Bewahrung ihrer persönlichen Freiheiten und Intimsphäre. Auch hier wurde der Ruf nach Regelungen laut, da die von den Betreibern der sozialen Medien zugesagte Selbstkontrolle nicht funktioniert. Die neue Macht der sozialen Medien muss aufmerksam verfolgt und rechtzeitig in akzeptable Bahnen gelenkt werden. Auch dies kann nur durch gezielte Aktionen von größeren Staatengemeinschaften wie der Europäischen Union gelingen.

Generell gilt es also Regeln zu finden, die den Problemen und Herausforderungen der heutigen Zeit gerecht werden. Sie sollen auch eine hohe Umsetzungswahrscheinlichkeit haben, aber auch die notwendige Flexibilität aufweisen. Sie dürfen nicht aus einer generellen Fortschrittsangst und -skepsis entspringen sondern versuchen, den Fortschritt in die richtigen Bahnen lenken.

Zwang zur Kurzfristigkeit und zum Mikromanagment

Wer kann aber eine solche ausgewogene aber doch klare Politik leisten? Stephan Bierling von der Universität Regensburg meinte diesbezüglich: „Heute, wo Demokratie, Freiheit und Frieden gefährdet sind, wo Automatisierung, Robotik und künstliche Intelligenz die Arbeitswelt revolutionieren, wo Parteien ihre weltanschauliche Bindewirkung verlieren und Stammwählerschaft aussterben, sind charismatische Politiker nötiger denn je.“

Nicht immer muss die Suche nach Alternativen in Richtung autoritärer und populistischer Persönlichkeiten gehen. Es gibt auch Fälle eines sachlich orientierten und begründeten Charisma, wie beim neuen französischen Präsidenten Emanuel Macron. Macron hat übrigens in seiner 2011 erschienen Analyse der „Labyrinthe der Politik“ die politischen Verhältnisse Frankreichs und auch der EU kritisch hinterfragt: “ Die Politik hat heute den Charakter einer zwanghaften Regelungsaktivität angenommen mit einer Vielzahl kleiner Aktionen und einer Mikro-Koordination vieler kleiner Akteure“.

Und was die EU betrifft, so hat sie sich gemäß Macron – und ich stimme ihm voll bei – in eine paradoxe Situation hinein manövriert: „Dadurch, dass sie sich zu allem äußert und überall einmischt, hat sie letztendlich selbst ihre eigenen Grenzen und ihre Kapazitätsmängel aufgezeigt.“

Für Macron geht es darum, die langfristigen Lösungen für die wesentlichen Probleme in den Vordergrund zu rücken und dem Zwang, auf jedes „Problem“ sofort mit einem neuen Gesetz zu reagieren, zu widerstehen. Und dabei sollte man sich nicht scheuen, der Ideologie also den Grundsätzen und Werten wieder eine angemessene Rolle zuzuweisen.

Freiheit und gesellschaftlicher Zusammenhalt

Bei all dem bleibt die große Frage unbeantwortet, wie man individuelle Freiheit verteidigen, bewahren bzw. verstärken kann und dabei auch den gesellschaftlichen Zusammenhang und Zusammenhalt wiederherstellen bzw. stärken kann. Denn interessanter Weise geht mit der Gefährdung individueller Freiheiten auch eine des sozialen Zusammenhalts einher. Auch das führt zur Suche nach autoritären Strukturen und Personen, die allerdings erst recht wieder die Freiheit und den Zusammenhalt gefährden. Jedenfalls dann wenn sie nur ihrem Charisma vertrauen und dem Populismus huldigen. Denn wie man an all den Beispielen in Europa auch in den USA sieht, spalten autoritäre Führer die Gesellschaft erst recht – parallel zur Reduzierung der individuellen Freiheit.

Der Dichter Ludwig Börne meinte zu seiner Zeit, man dürfe nicht zu sehr herrschen und schrieb: „Freiheit geht nur aus der Anarchie heraus“. In gewissem Sinn haben wir heute aber ein Zuviel an Anarchie und Chaos. Genau das führt Menschen dazu nach Ordnung zu rufen und sich autoritäre Systeme zu wünschen. Der Anteil jener Menschen, die sich „starke Führer wünschen, die sich nicht um Parlament und Wahlen kümmern“ hat in vielen Ländern so auch in Österreich (und nicht nur in der Türkei) stark zugenommen. Freiheit und Ordnung bzw. Sicherheit sind daher notwendig, will man die Freiheit nicht unter die Räder kommen lassen.

Und so meint auch Martin Meyer in seiner Dankesrede zur Verleihung des Ludwig-Börne-Preises: „Dieser Satz: „Freiheit geht nur aus der Anarchie heraus“ braucht als Gegenkraft das ordnende Prinzip des liberal-demokratischen Rechts- und Verfassungsstaats: als Bedingung in einer Welt, die vielerorts ohnehin aus den Fugen zu springen droht.“

Freiheit besteht also nicht darin, das „Ich“ absolut zu setzen und über zu betonen. Das „Wir“, nicht im Sinne eines kollektiv erzwungenen sondern im Sinne gemeinsamer Anstrengungen, schafft oft erst wirkliche Freiheit. Während wir in Fresach darüber diskutieren, wird im Wiener Architekturzentrum AZW eine Ausstellung der Turner Preis TrägerInnen Assemble eröffnet. Zusammen etwas aufzubauen, verschiedene Fähigkeiten und Ressourcen zusammen zu sammeln kann sehr viel zur Freiheit beitragen. Sicher allerdings sollte es ein „Zusammen“  sein, dass auf möglichst freiwilliger Initiative und Basis beruht. Staat und EU könnten durchaus dazu beitragen, die entsprechenden Voraussetzungen zu schaffen.

Regelungen und die öffentlichen Verwaltungen müssen mit Bedacht auf gesellschaftliche Herausforderungen reagieren. Initiativen und Innovationen sowie Kreativität dürfen nicht verhindert und abgedreht werden – außer sie haben eindeutig negative gesellschaftliche Konsequenzen. Aber das kann nur in einem freien und offenen Diskurs festgestellt werden. Den zu führen ist ein wesentlicher Bestandteil jeder freiheitlichen Gesellschaft.

Und was kommt nach der Freiheit?

Interessanterweise hat gerade Francis Fukuyama darauf hingewiesen, dass Freiheit nicht alles ist, vor allem, wenn sie mit dem Niedergang des Gemeinschaftslebens einhergeht. Das „bringt die Gefahr mit sich, dass wir uns zu allseits abgesicherten, egozentrischen letzten Menschen entwickeln, denen jedes thymotische Streben nach höheren Zielen fremd ist, weil sie nur noch um ihre private Bequemlichkeit besorgt sind.“

Fukuyama warnt davor, dass unter diesen Bedingungen „Menschen aus einer gewissen Langeweile heraus kämpfen“. „Und wenn der größte Teil ihrer Welt in friedlichen und wohlhabenden liberalen Demokratien lebt, dann kämpfen sie eben gegen(!) Frieden und Wohlstand und gegen die Demokratie.“

Gerade diejenigen, die durch Literatur und andere Formen der Kunst unermüdlich für Freiheit kämpfen, zeugen davon, dass die abstrakte Freiheit nur in Verbindung mit übergeordneten menschlichen Zielen und Aspirationen einen Sinn macht. Das mag altmodisch klingen, aber wir sollten dennoch nicht auf solche Ziele, die jenseits des oftmals überschätzten Ichs liegen, verzichten.

*Hintergrundpapier für die Eröffnungsrede bei den Toleranzgesprächen Fresach 2017, die sich in Villach und Fresach dem Motto Freiheit widmeten.