GERECHTES EUROPA

In den Wochen vor den Wahlen zum Europäischen Parlament werden wieder viele Ideen präsentiert was Europa – im Sinne der Europäischen Union – darstellen soll. Was sind eigentlich die Ziele, die wir mit dem Europäischen Einigungsprozess erreichen wollen? Allzu oft wird die EU als ein von Lobbyisten bestimmter Wirtschaftsblock angesehen, der nur die Interessen der großen Konzerne bedient. Nun immer wieder muss betont werden, dass der Ursprung und die raison d’etre dieses Einigungsprozess nicht in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit lag, sondern in der Überwindung von Krieg und engstirnigem Nationalismus, der ja in Europa immer wieder zu Kriegen führte. 

Angesichts eines wieder wachsenden Nationalismus, einer gestiegenen und politisch unterstützen Fremdenfeindlichkeit muss dieses Gründungsmotiv der europäischen Einigung betont werden. Und auch der Vertrag von Lissabon unterstreicht durch die Aufnahme der Charta der Grundrechte diese Dimension der Europäischen Union. Dieser Aufnahme gingen viele Auseinandersetzungen voraus, aber sie stellt einen wichtigen Schritt in der Entwicklung der EU dar – auch wenn einige Regierungen – wie aktuell die von Ungarn und Polen – dagegen immer wieder verstoßen. Umso wichtiger sind politische Kräfte und EU-Verfahren, die die Einhaltung dieser Grundrechte einfordern.

Vorrang für die Wirtschaft und die Lobbyisten?

Übersehen wird nach wie vor die umfangreiche Umweltschutzgesetzgebung der EU. Die Europäische Union hat bei allen Mängeln und Unzulänglichkeiten die fortgeschrittenste Klimapolitik. Ohne sie wäre das Klima-Abkommen von Paris nie zustande gekommen. Aber selbst im sozialen Bereich, zum Beispiel bei der Arbeitszeit, gab es etliche Regelungen, vor allem um Mindeststandards zu sichern. Und überdies hat die EU – für mich allerdings unvollkommene – Schritte zu einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik unternommen. 

Zur Umsetzung der politischen Ziele des Neuen Europas hat man wirtschaftliche Instrumente verwendet – vor allem um einseitige Aufrüstung zu verhindern, wie sie ja vor allem in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg stattgefunden hat und erneut zum Krieg führte. Und es stimmt, lange Zeit hat das Wirtschaftliche dominiert. Vor allem auch durch die Einführung des Euro als – fast – gemeinsame Währung ist der Eindruck entstanden, als wäre die EU primär eine Wirtschaftsgemeinschaft. Unterstützt wurde das auch – vor allem in Österreich – durch die Überschätzung des sicher vorhandenen Lobbyismus großer Konzerne. Als ob es den nur in der EU gäbe und als ob der alles durchsetzen hätte können. Und als ob nicht auch Gewerkschaften, Umweltverbände und Tierschützer in Brüssel aktiv wären – und vor allem auch im EU Parlament Erfolge erzielen würden. 

Dennoch gibt es Gründe für einen Kurswechsel und neue politische Schwerpunkte. Die werden aber nur durch mühsame Auseinandersetzungen erreicht, genauso wie auf nationaler Ebene. Die kommenden Wahlen bieten die Möglichkeit die Entwicklungen der EU zu beeinflussen und Defizite zu beseitigen. 

Warum gewachsene Unzufriedenheit?

Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist die Unzufriedenheit mit der Entwicklung, vor allem in sozial schwächeren Schichten und in peripheren Regionen. Der Erfolg vieler rechter Parteien und die Demonstrationen der „Gelbwesten“ in Frankreich sind Symbol dieser Unzufriedenheit. Sicher sind das nicht nur europäische Phänomene. Der Blick in die USA aber auch nach Brasilien, in die Philippinen etc. zeigt, dass wir es mit einem globalen Phänomen zu tun haben. Gewachsene Unsicherheiten hinsichtlich der wirtschaftlichen und sozialen aber auch ökologischen Zukunft führten in vielen Ländern zur Sehnsucht nach einfachen Antworten und rasche „Lösungen“.

Was nun Europa betrifft haben die Aufnahme von Flüchtlingen und die Debatten über die Inclusion/Integration dieser Flüchtlinge oft den Eindruck entstehen lassen, dass deren Wohl wichtiger ist als das der „Stammbevölkerung“. Die Aufnahmebereitschaft bezüglich der Flüchtlinge hätte jedenfalls von stärkerer Sorge und Hilfe für die sozial Schwachen generell begleitet sein müssen. 

Hinzu kommt, dass durch viele Liberalisierungsschritte die Versorgung mit öffentlichen Dienstleistungen ausgehöhlt wurde – vor allem in peripheren Regionen. Das hat das Stadt-Land-Gefälle zumindest in der Vorstellung der ländlichen Regionen erhöht. Und diese Entwicklung kam zur Abwanderung von diesen Regionen in die Städte und der damit verbundenen Ausdünnung der Bevölkerung noch hinzu. 

Steuerungerechtigkeit 

Der oft auf realen Verhältnissen beruhende Eindruck der Vernachlässigung wird vor allem durch eine hohe Steuerungerechtigkeit verstärkt. Die Praxis der Steuervermeidung durch multinationale Konzerne und die Veranlagung von Schwarzgeld in der Schweiz oder in Panama zeugen von einer extremen Steuerungerechtigkeit. Viele Regierungen haben solche Praktiken unterstützt oder sie jedenfalls nicht angeprangert oder verhindert. 

Es war das EU Parlament und zum Teil die EU Kommission, die diese Verhältnisse aufgedeckt haben und die zuständige Kommissarin hat Strafen verhängt. Und das oft im Widerspruch zu nationalen Regierungen, die weiter Steuerprivilegien verteilen wollten. Es sind also gerade europäische Institutionen, die diese heiklen Fragen aufgegriffen haben, wenn auch spät und zu zögerlich – auf Grund der entsprechenden Mehrheitsverhältnisse.

Eine Politik der verstärkten Steuergerechtigkeit ist dringend erforderlich und die bedarf einer gemeinsamen Vorgangsweise. Zumindest in Europa soll den Unternehmungen das Ausweichen und das Ausspielen einzelner Staaten gegeneinander unmöglich gemacht werden. In diesem Zusammenhang sollte vor allem die Einstimmigkeit im europäischen Steuerrecht überdacht und endlich eine Lösung für die Finanztransaktionssteuer gefunden werden. 

Manche fragen warum nicht schon längst mehr an Steuern bei den Vermögenden eingehoben wird, aber den Gegnern gelingt es immer wieder von dieser Forderung abzulenken. So macht eine empirische Studie deutlich, dass je mehr die Frage der Zuwanderung in den Vordergrund gerückt wird, desto weniger wird die Forderung nach Steuerungerechtigkeit erhoben. Die Einwanderung und ihre Unterstützung werden als viel größere Ungerechtigkeit angesehen als die ungleiche Steuerlast. 

Gerechtigkeit für europäische ArbeitnehmerInnen

Unabhängig von der Steuerpolitik muss aber auch der Liberalisierungs- und Wettbewerbskurs der EU einer Korrektur unterzogen werden. Sicher hat der Binnenmarkt mit seinen Wettbewerbsregeln zur europäischen Wohlfahrt beigetragen. Aber einerseits wurde die Bedeutung der öffentlichen und gemeinwirtschaftlichen Versorgung der Bevölkerung unterschätzt oder gar missachtet. Der Wettbewerb kann sicher zur Leistungssteigerung solcher Dienstleistungen – zum Beispiel im Verkehr -beitragen. Aber privatwirtschaftliche Lösungen sind nicht immer besser und orientieren sich oft an den Vermögenderen. 

Aber es geht auch darum, europäische Lösungen stärker zu betonen. Wenn wir sehen wie zum Beispiel China aber auch die USA ihre Industrien direkt und indirekt unterstützen, dann ist die bedingungslose Öffnung des europäischen Marktes für alle MitbewerberInnen nicht gerecht. Dabei geht es nicht um einen neuen Protektionismus. Aber man sollte sich mehr bemühen, europäische Lösungen für industrielle Kooperationen und Innovationen zuzulassen bzw. zu fördern. Kein unbedingtes und engstirniges „Europa zuerst“ aber auch keine naive innereuropäische Wettbewerbspolitik, die europäische Interessen an einer stärkeren globalen Positionierung missachtet. Schließlich geht es um Arbeitsplätze, die wir für ein gerechtes und faires Europe brauchen. 

Gerechtigkeit zwischen den Generationen

Zwar haben die Auswirkungen der Klimaveränderungen bereits jetzt alle Menschen erreicht, aber manche Ältere können sich einreden, sie können/werden den Verschlechterungen der Lebensbedingungen entkommen. Sicher gilt das nicht für die jüngere Generation. Die Demonstrationen der Jungen in vielen europäischen Städten zeugen von der – begründeten – Zukunftsangst und dem Nachdruck ihrer Forderungen nach radikalen Maßnahmen. Auch wenn die EU die fortgeschrittenste Umweltpolitik weltweit aufweist, es ist immer noch nicht genug, um Klimakatastrophen zu vermeiden. 

Umwelt- und Klimapolitik ist auch eine Frage der Gerechtigkeit. Dabei müssen Fehler vermieden werden, wie sie der Französische Präsident Macron begangen hat. Die Steuer auf Kraftstoffe zu erhöhen und gleichzeitig die Steuern für die Reichen zu senken ist nicht akzeptabel. Die Revolte der „Gelbwesten“ war die Konsequenz. So wichtig Maßnahmen zum Energiesparen sind, so wichtig ist es, umweltpolitisch begründete Belastungen durch Entlastung für die sozial Schwächeren zu kompensieren. Eine gerechte Klimapolitik muss mit einem Sozialpakt gekoppelt werden, soll sie zum Erfolg führen und nicht am Widerstand der Bevölkerung scheitern.

Gerechtigkeit gegenüber den Armen dieser Welt

Objektiv ist die Armut in der Europäischen Union kaum vergleichbar mit der Armut in den „südlichen“ Ländern, insbesondere in weiten Teilen Afrikas. Europa kann sicher nicht die Armutsprobleme dieser Welt lösen. Aber zum gerechten Handel gehört auch die Gerechtigkeit gegenüber jenen Ländern, die unter dem europäischen Kolonialismus besonders gelitten haben. Wir sollten daher nicht nur offen sein gegenüber Exporten aus diesen Ländern sondern vor allem sollte Europa den Aufbau von afrikanischen Binnenmärkten nicht durch gestützte Exporte nach Afrika verhindern bzw. erschweren.

Wichtiger als Entwicklungshilfe sind Investitionen, eine Gestaltung der Ausbeutung von Rohstoffen, die auch der lokalen Bevölkerung zu Gute kommt sowie fairer Handel. Auch wenn manchmal kurzfristig die Fairness gegenüber der europäischen Bevölkerung im Widerspruch zur Fairness gegenüber den afrikanischen Nachbarn kommt, langfristig braucht es diese beiderseitige Fairness. Denn eine starke Wirtschaftsentwicklung in Afrika selbst sowie Unterstützung beim Kampf gegen den Klimawandel sind die besten Mittel gegen eine unangemessen starke Migration nach Europa. Überdies könnte auch eine zirkuläre Migration helfen know how nach Afrika zu exportieren und neue Arbeitsplätze vor Ort zu schaffen.