Nach dem ersten Wahlgang in Frankreich – einige persönliche Bemerkungen

Wenige Tage vor dem ersten Wahlgang zur Präsidentschaft hatte ich der französischen Hauptstadt einen, vor allem kulturell motivierten, Besuch abgestattet. Ich bin im selben Hotel wie damals abgestiegen, als es galt den Wahlsieg von François Hollande vor fünf Jahren zu feiern. Es liegt nur wenige Meter vom Hauptquartier der französischen Sozialisten in der Rue Solferino entfernt. Vor fünf Jahren war es ein großer Tag voll Freude und Hoffnung.

Ich habe François Hollande wenige Male vor dem ersten Wahlgang und dann mehrere Male nachher getroffen, meist in Vorbereitung der Sitzungen des Europäischen Rats. Und ich hatte ihn auch in die Fraktion eingeladen als ich deren Vorsitzender war. Er war unprätentiös und ein angenehmer Gesprächspartner. Aber politisch hat er mich ziemlich schnell enttäuscht. Ihm war anscheinend nicht bewusst, dass die Versprechungen in einem Wahlkampf nicht eins zu eins umgesetzt werden können bzw. man in Europa viele BündnisparterInnen suchen muss, um die politische Landschaft zu beeinflussen.

Tiefe Krise in der französischen Sozialdemokratie

Nicht nur ich erwartete mir ein Gegengewicht zur konservativen Wirtschafts- und Finanzpolitik Deutschlands und damit der herrschenden Politik innerhalb der EU. Sicher war Frankreich in einer schwierigen wirtschaftlichen Lage und das war nicht die Schuld von Hollande. Aber er und die von ihm ernannte Regierung waren überhaupt nicht vorbereitet, wie sie den Wahlsieg in eine konkrete Politik in Frankreich selbst und innerhalb der EU umsetzen könnten. Sie versprachen zu viel und hatten keinen Plan, wie sie, in Zeiten einer schweren Finanz- und Wirtschaftskrise und einer allgemeinen konservativen bzw. neo-liberalen Grundeinstellung, eine Zustimmung zu einer alternativen Politik gewinnen könnten. Sie haben auch auf europäischer Ebene nicht einmal für eine Alternative geworben.

Innerhalb der Fraktion waren die französischen KollegInnen oft unterschiedlicher Meinung, wie Frankreich aus sozialdemokratischer Sicht gestaltet werden sollte. Grundsätzlich waren sie aber meist links von der Mehrheit der Fraktion angesiedelt. Das galt insbesondere für Benoît Hamon, den sozialistischen Kandidaten bei der jetzigen Wahl. Er war kaum kompromissbereit und mich wundert sein schlechtes Abschneiden beim ersten Wahlgang keineswegs. Nun ist das durchaus nicht allein seine Schuld. Präsident Hollande und seine Premierminister – die ich alle kennenlernte – hatten den Grundstein dazu gelegt. Dabei war Jean-Marc Ayrault mir persönlich sehr sympathisch und generell ein sehr umgänglicher Politiker – zum Unterschied von Manuel Valls. Aber das allein genügt nicht um eine sozialdemokratische Politik zu gestalten. Und der Nachfolger von Valls, Bernard Cazeneuve, mit dem ich viel zu tun hatte als er Europaminister war, hatte und hat ebenfalls nicht von neuen Ideen gesprüht. Aber das ist auch das Problem der französischen Regierungsstruktur, die den Premierministern wenig Spielraum gibt.

Daß auf der „linken“ Seite ein Melénchon so gut abschneiden konnte, ohne klare und realistische und das heißt umsetzbare Vorstellungen von einer zukünftigen Politik zu haben, ist ein trauriger Beweis für die fundamentale Krise der französischen Sozialdemokratie – und nicht nur für die französische. Zwar findet er auch unter einigen Ökonomen Verteidiger, aber im Europäischen Parlament ist er nicht durch eine Bereitschaft aufgefallen, seine Visionen in praktische Vorschläge umzusetzen.

Le Pen profitiert von Enttäuschungen und einem Wandel in den intellektuellen Milieus

Besonders bedauerlich, wenngleich nicht überraschend, ist das gute Abschneiden der rechtsextremen Marine LePen. Auch sie hab ich im EU Parlament erlebt. So wie andere Abgeordnete der rechten Extreme hat sie sich nicht auf die „Niedrigkeiten“ einer konkreten Politik und einer parlamentarischen Arbeit herabgelassen. Sie nahm auch nicht an der Ausschussarbeit teil. Ihr genügte es, ihre rechten Slogans in den Plenarsitzungen loszulassen. Aber es sind halt Sprüche, die vielen gefallen – nicht zuletzt aus Enttäuschung mit den anderen Parteien und deren PolitikerInnen und dem Gefühl zu kurz zu kommen. Aber das haben wir ja in vielen europäischen Ländern gesehen und ganz klar bei den letzten Wahlen in den USA.

Interessanter Weise haben sich manche linke „Intellektuelle“ sehr weit nach rechts begeben und auch von einer nationalistischen Ebene her Le Pen Unterstützung gegeben. Schon seit einiger Zeit fällt auf, dass die ehemals linken Milieus in Frankreich sehr ausgedünnt sind und keineswegs mehr die intellektuelle Debatte beherrschen. Die Zuwanderung aus den islamischen Ländern und die von den extremen Laizisten befürchtete Untergrabung des säkularen Staates hat sicher dazu geführt, dass sie einer Linken, die ohnedies auch strenge Kleidervorschriften als Mittel gegen den Fundamentalismus und den Terrorismus befürworten, abgeschworen haben.

Städtebaulicher und sozialer Strukturwandel

Wenn man nicht nur das zentrale, reichere Paris besucht, dann kann man auch Armut und Ausgeschlossenheit in der Nähe der Hauptstadt erleben: zum Beispiel in Aubervilliers, einer traditionellen links regierten Stadt. Die Vielfältigkeit der Schichten und Farben der Einwohner ist nicht unähnlich zu anderen europäischen Städten, nur vielleicht etwas ausgeprägter. Noch sind Reste der traditionellen Industrien und Gewerbe,  wo ehemals die weiße Bevölkerung inklusive der MigrantInnen aus Belgien etc. einen Job fanden, erkennbar. Aber natürlich ist heute die Migration aus den arabischen und schwarz-afrikanischen Ländern unübersehbar.

Viele weiße WählerInnen führen die Arbeitslosigkeit nicht auf einen generellen Strukturwandel und den technischen „Fortschritt“ zurück, sondern auf die Zuwanderung. Und diese haben die kosmopolitischen Systemvertreter genauso zu verantworten wie die Globalisierung. Und genau so argumentiert Le Pen und hoffte einen deutlichen Einbruch in die linken Hochburgen zu erzielen. Demgegenüber versicherten Plakate die Solidarität aller mit allen einzufordern.

Le Pen hat zwar gegenüber dem ersten Durchgang im Jahre 2012 etwas zugelegt, aber Macron liegt deutlich vor ihr in der Wählerzustimmung. Die große Veränderung gab es auf der linken Seite. Melénchon hat seinen Wähleranteil verdoppelt und wurde mit Abstand die Nummer eins in dieser Stadt. Der Sozialdemokrat Hamon blieb weit hinter der Zustimmung von François Hollande zurück. Die Rechnung von Le Pen, hier deutliche Einbrüche zu erzielen, ging jedenfalls nicht auf. Aber – das muss man zugeben- das ist wahrscheinlich auch auf eine starke, anti-kapitalistische, anti-Globalisierung und anti-EU Haltung beim Wahlsieger in dieser Stadt, nämlich Jean-Luc Melénchon zurückzuführen.

Schwieriger Strukturwandel

Zurück zu Aubervielliers: Neben den älteren Quartieren gibt es durchaus ansprechende und auch mit viel Grün versehene Neubaugebiete. Von außen kann man nicht erkennen, inwieweit die Wohnungen bzw. die Arbeitsplätze auch den ursprünglichen BewohnerInnen dieser Quartiere oder den MigrantInnen zukommen. Aber wenn man die rauchende Bevölkerung vor den Bürogebäuden als Maßstab nimmt, dann ist der Anteil der MigrantInnen jedenfalls unterdurchschnittlich. Hoffentlich sind jedenfalls die Kinder der ehemaligen IndustriearbeiterInnen einigermaßen vertreten. Die Stadt ist jedenfalls prototypisch für den schwierigen Strukturwandel von einer traditionellen Industriestadt in eine moderne Dienstleistungsstadt bei gleichzeitiger Aufgabe der Integration der älteren traditionellen EinwohnerInnen und der MigrantInnen.

Hinzu kommt die oft triste Lage in manchen, im wahrsten Sinn des Wortes, verlassenen Dörfern und ganzen Regionen. Auch dort hat sich eine pessimistische Strömung in Richtung des Front National bereitgemacht. Laut einer Statistik gibt es sogar einen deutlichen Zusammenhang zwischen dem Schließen der Postämter und der Bereitschaft den Front National zu wählen. Das Schließen der Postämter wird dabei als Symbol der Vernachlässigung der Bevölkerung durch die staatlichen Dienstleistungen gesehen. Und gerade in diesen Regionen wird die Zuwanderung – auch wenn sie dort nicht so ausgeprägt ist – als Beitrag zur Zerstörung des traditionellen Lebens interpretiert.

Zuwanderung und Entsenderichtlinie

Die Migration und Integration der Zuwanderer war jedenfalls ein wichtiges Thema der Wahlauseinandersetzungen. Vor allem Le Pen hat sich diesbezüglich nicht zurückgehalten. Und die terroristischen Anschläge, so insbesondre der Mord an einem Polizisten, wenige Tage vor dem ersten Wahlgang waren Wasser auf ihre Mühlen. Man hat den Eindruck, die IS und ähnliche terroristische Bewegungen wünschen sich geradezu eine Präsidentin Le Pen, damit die – rassen- und religionsbezogenen – Spannungen im Land noch größer werden.

Ein anderes Thema, das sie aber nicht so weit von einigen anderen Kandidaten trennte, war die in der EU erlaubte und nur ungenügend geregelte Entsendung von Arbeitskräften über die EU internen Grenzen. Im EU Parlament haben wir immer wieder versucht, strengere Regeln und vor allem grenzüberschreitende Kontrollen in die Entsenderichtlinie aufzunehmen. Schon hier war es schwierig durch entsprechende Gesetzesbestimmungen die Richtlinie zu novellieren. Aber im Rat war der Widerstand noch stärker – vor allem von Seiten der Vertreter der „neuen“ Mitgliedsländer, die das als diskriminierend empfanden.

Le Pen will sie einfach abgeschafft haben, andere KandidatInnen wollen sie unterschiedlich verändern, um die Konkurrenz gegenüber den einheimischen ArbeitnehmerInnen fairer zu gestalten. So denkt jedenfalls der sozialdemokratische Kandidat Hamon, der die entsprechenden Debatten ja noch aus dem Europäischen Parlament kennt. Im Übrigen könnte eine einfache Abschaffung dazu führen, dass das Recht auf Entsendung weiter bestünde, allerdings ohne jegliche soziale Regelungen.

Kann Macron es schaffen?

Die Entsenderichtlinie ist nur ein Beispiel für die Betonung der sozialen Anliegen, die bei einem der Kandidaten für eine Spitzenposition nach dem ersten Wahlgang, Emanuel Macron, unterbelichtet sind. Der Mangel an sozialpolitischen Ideen und seine „liberalen“ Wirtschaftsvorstellungen sind die Hauptangriffspunkte der Linken. In einem Plakat seiner Gegner wird sogar suggeriert, dass wer ihn wählt, einen sozialen Selbstmord begeht oder fördert. Vor allem Melénchon könnte mit klaren linken Aussagen punkten und er war zum Unterschied zu Hamon nicht durch politische Praxis und Zugehörigkeit zum System „belastet“, auch wenn er schon lange, allerdings auf parlamentarischer Ebene, politisch tätig ist.

Von rechter Seite wieder wird Macron als Krypto-Sozialist und als Klon von François Hollande beschimpft. Und allgemein wird seine geringe Regierungserfahrung kritisiert. Er wird auch als typischer Vertreter des „System“ bezeichnet. Interessanter Weise auch vom ehemaligen Premierminister Fillon, der bereits Jahrzehnte dem „System“ angehört. Und auch Le Pen musste sich sagen lassen, dass sie Privilegien des Systems, wie die parlamentarische Immunität, akzeptiert, auf sich anwenden lässt und daraus Vorteile bezieht.

Gegenüber den Angriffen von Links aber auch von rechts verteidigte unlängst der Schriftsteller und Komponist Yves Simon die Position von Macron als die überfällige Synthese von rechten und(!) linken Positionen. Es geht nicht um rechts oder bzw. gegen links sondern um ein sowohl als auch – je nach Problemstellung und Aufgabe. Man müsse endlich mit dieser permanenten aber fruchtlosen Konfrontation aufhören. Der Ausgang des ersten Wahlgangs hat jedenfalls diese Position honoriert.

Zurück zu Macron: wenn er im zweiten Wahlgang gewinnen sollte – und die Voraussetzungen dafür sind gut und dennoch kann es eine Überraschung geben -, dann stellt sich noch immer die Frage, mit welcher Mehrheit in der Nationalversammlung er sein Programm umsetzen will. Allerdings ist das eine grundsätzliche Frage für alle KandidatInnen. Denn jeder von ihnen konnte viel versprechen – und jeder tat es, aber keiner konnte mit einer klaren Parlamentsmehrheit die ihn unterstützen würde rechnen.

Konfrontation oder Koalition

Auf diesen für europäische Verhältnisse Anachronismus haben zwei deutsche Philosophen, Habermas und Sloterdijk, die von Le Monde wenige Tage vor dem ersten Wahlgang interviewt wurden, unisono hingewiesen. Die von de Gaulle und einer Volksabstimmung eingeführte Verfassung sieht ja einen starken Präsidenten mit einer ebenso starken Richtlinienkompetenz vor, aber für viele Regelungen braucht er dennoch eine Mehrheit im Parlament, also der Nationalversammlung. (Erdogan hat sich da seinen bestimmenden Einfluss auf die politischen Entscheidungen schon besser abgesichert). Zwar gibt es auch gemäß der französischen Verfassung die Möglichkeit durch Verordnungen einzelne Regelungen umzusetzen, aber das ist in der Realität nur beschränkt möglich.

Für Habermas und Sloterdijk mangelt es der französischen politischen Elite an der Fähigkeit, einen Konsens zu finden und im Notfall Koalitionen zu schmieden. Auch das habe ich schon im EU Parlament bemerkt. Die Bereitschaft, Kompromisse zu schließen, war gerade bei den französischen Abgeordneten sehr gering. Sie haben immer sehr kritisch alle jene sozialdemokratischen Parteien betrachtet, die in ihren Ländern Koalitionsregierungen bildeten.  Einer der Kompromisse besonders ablehnte war Benoît Hamon. Er jubelte geradezu zu, als einmal sein Bericht in einer Plenarsitzung – von der rechten/liberalen Mehrheit – abgelehnt wurde.

Auf zum entscheidenden Wahlgang

Emanuel Macron hat jedenfalls gut Chancen den zweiten Wahlgang für sich zu entscheiden. Verschiedene konservative Politiker aber auch der Sozialdemokrat Benoit Hamon haben aufgerufen, ihn zu wählen, um Le Pen zu verhindern. Aber hoffentlich glauben nicht zu viele, die Sache sei ohnedies gelaufen und bleiben in zwei Wochen zu Hause. Und dann gibt es ja noch die Parlamentswahlen im Juni. Frankreich bleibt spannend. Die entscheidende Frage ist, inwieweit das Auftreten Macrons auf der politischen Bühne nicht nur ein kurzfristiges Aufmischen darstellt, sondern strukturelle Veränderungen bewirken wird.