Türkei: Einblick in die politischen Verhältnisse

Im Rahmen des Besuches des Vorsitzenden der türkischen Oppositionspartei CHP kam es zu einem unangenehmen Zwischenfall. Nach einer guten Diskussion in der Fraktionssitzung mit Kemal Kılıçdaroğlu hielten wir beide eine kurze Presskonferenz ab. Nachdem ich diese bereits verlassen hatte, setzte Kılıçdaroğlu den türkischen Premierminister Erdoğan mit dem blutigen syrischen Diktator gleich. Meine Mitarbeiter und seine Assistenten vereinbarten eine Klarstellung, aber die türkische Delegation war dazu nicht mehr bereit. So sagte ich ein weiteres Treffen ab.

Oft genug habe ich selbst Erdoğan und die Gefahren für die Demokratie in der Türkei kritisiert. Diesen Vergleich aber, gemacht vor den Fernsehkameras und mit dem Logo der S&D-Fraktion im Hintergrund, konnte ich nicht akzeptieren. Wie üblich haben die türkischen Medien diesen Konflikt ausgeschlachtet.

Auf Twitter und Facebook kamen wüste Vorwürfe, Beschimpfungen und Unterstellungen gegen mich. Durch die Ablehnung des Vergleiches mit Assad wurde ich plötzlich ein Unterstützer von Erdoğan und seines angeblich „faschistischen“ Systems. Aber das muss ich aushalten.

Erschreckend fand ich Folgendes: Viele Türken bzw. Menschen türkischer Herkunft hielten den Vergleich zwischen Erdoğan und Assad für völlig gerechtfertigt. Erdoğan wurde sogar mit Hitler verglichen. Man sprach von „Islamofaschismus“ und von groben Wahlfälschungen, die Erdoğan an der Macht hielten. Ein ungeheurer Hass gegen Erdoğan und seine Politik wurde losgetreten. In dieser „Debatte“ hatte eine differenzierte Analyse und Betrachtung keinen Platz.

Dass die Gesetze, die heute zur Anwendung kommen, vielfach aus Zeiten stammen, in denen die CHP tonangebend war, wird einfach nicht zur Kenntnis genommen. Argumente spielten in dieser Auseinandersetzung keine große Rolle.

Was mich, der sich immer für die Türkei eingesetzt hat und der auch immer Reformen in Richtung Demokratie eingefordert hat, besonders betrübt, ist die hasserfüllte Kritik an der jetzigen Situation in der Türkei und an Erdoğan von republikanischer, säkularer Seite, jedenfalls soweit sie auf Facebook und Twitter zum Ausdruck kam. Dafür sind sicher auch Erdoğan und seine Partei, die AKP, mitverantwortlich. Bestimmte Tendenzen der Islamisierung und die autoritäre Haltung, die Erdoğan zum Ausdruck bringt, tragen zu der extremen Polarisierung in der Türkei bei.

Vor allem stört mich auch der starke Nationalismus, der Kritik immer sofort zurückweist und den Kritiker schmäht. Immer wieder habe ich auch das in der Vergangenheit erlebt und zwar von verschiedenen Seiten. Auch damit wird eine ernsthafte Auseinandersetzung vermieden.

Insofern gaben der Zwischenfall und die Reaktion darauf einen Einblick in die politischen Verhältnisse in der Türkei und in die große Kluft zwischen der Regierung und der größten Oppositionspartei. Ich hoffe, dass der Weg zu einer konstruktiveren Auseinandersetzung gefunden werden kann.

Die Türkei ist und bleibt ein wichtiger wirtschaftlicher und politischer Partner der EU und ich hoffe, dass wir unser Verhältnis Schritt um Schritt verbessern können. Ich hoffe auch, dass die starke Polarisierung und der starke Nationalismus innerhalb der Türkei selbst abgebaut werden können. Und ebenso hoffe ich, dass die Türkei den Weg der Demokratisierung nicht verlässt.

Dabei sehe ich durchaus Gefahren in der autoritären Politik von Erdoğan und seiner Anhänger. Aber mit weitaus überzogener Kritik wird der Kampf für Demokratie und Freiheit nicht glaubwürdiger. Das ist mein Argument und nicht, dass Erdogan ein „lupenreiner Demokrat“ sei, wie einmal Schröder bezüglich Putin behauptet hat.

Es ist vor allem wichtig, den Kurden in der Türkei mehr Entfaltungsmöglichkeiten zu geben. Da ist die Haltung von Erdoğan und seiner Regierung sehr zwiespältig. Einerseits gibt es mutige Initiativen in Richtung Frieden und Konfliktlösung. Anderseits werden immer wieder lokale Politiker, Journalisten und Intellektuelle verhaftet. Und es gibt keine klare bzw. erkennbare Linie.

Allerdings beschweren sich auch immer wieder die Vertreter der KurdInnen bei mir über die mangelnde Unterstützung der CHP für eine friedliche Lösung der Kurdenfrage. Alle politischen Kräfte, die AKP, die CHP aber auch die Kurdenpartei BDP müssen hier eng zusammenarbeiten, um den Terrorismus zu stoppen und eine friedliche Lösung zu erreichen.

Ja, die Türkei und alle politischen Kräfte in der Türkei stehen vor großen Herausforderungen. Meine Hoffnung, dass die Türkei diese Herausforderungen meistert, gebe ich jedenfalls nicht auf. Dazu habe ich mich auch persönlich viel zu viel engagiert. Auch wenn einige Kritiker das nicht sehen wollen.