Ukraine: gegensätzliche Perzeptionen und Strategien

Die Ukraine Krise ist ein typischer Fall, wie geschichtliche Ereignisse und deren Vorlauf unterschiedlich gesehen und interpretiert wird. Es gibt eine westliche und eine russische Sichtweise und verschiedene Zwischenformen. Und sie sind kaum miteinander vereinbar.

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Der Westen (die USA und ein Großteil Westeuropas) sehen die nach dem Kalten Krieg hergestellte Ordnung samt den damit zusammenhängenden Vereinbarungen durch Russland gebrochen. Der selbst verschuldete Zusammenbruch der sowjetischen/kommunistischen Strukturen hat dem liberalen (neo-liberalen?) Wirtschaftssystem die Tür geöffnet. Überdies hat sich die Demokratie und die freie Entscheidungsmacht der Staaten durchgesetzt. Die Menschen sind dort angekommen, wo sie auch hin wollten. Und die Ukraine hat sich bis knapp vor der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens für diese Orientierung, den Weg „nach Europa“ entschieden. Erst der russische Druck auf Präsident Yanukovich hat die Krise herbeigeführt. Noch einmal hat der Westen – vertreten durch drei europäischen Außenminister – versucht, einen nationalen Kompromiss herzustellen. Aber das Regime Yanukovich war bei der Bevölkerung so verhasst, dass diese dessen Verbleiben an der Spitze des States nicht mehr akzeptieren wollte und jeder Kompromiss abgelehnt wurde.

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Russland und insbesondere Putin und seine Umgebung sehen die Dinge völlig anders. Der Westen, insbesondere die USA haben nach Ende des Kalten Krieges die vorübergehende Schwäche Russlands ausgenützt und sich immer weiter an die Grenzen Russlands angenähert. Das gilt insbesonders für die NATO, die Russland quasi eingekreist hat. Nach dem NATO Gipfel in Bukarest hat Putin diese Strategie klar kritisiert und schon die Intervention in Georgien hat gezeigt, was Russland akzeptieren kann und was nicht. Eine zunehmende Schmälerung der russischen Einfluß- bzw. Interessenssphäre konnte Russland nicht hinnehmen. Und die vom Westen inszenierte Maidan Revolution, die eine demokratisch gewählte und legitimierte Regierung davon gejagt hat, hat Russland zum Handeln gezwungen. Einerseits hat es den lange gehegten Wunsch der Krim Bevölkerung, zurück nach Russland zu kommen, erfüllt. Anderseits hat es nachdem der bewaffnete Widerstand im Osten der Ukraine gegen die Machtübernahme durch die Rechtsextremen in Kiew vom Ukrainischen Militär und faschistischen Freischärlern angegriffen wurde, die Rebellen unterstützt.

Was ist wahr? Es sind unterschiedliche Wahrheiten, die da zu Tage treten. Russlands Führung sieht die Dinge geo-politisch und als Frage der Machtbalance. Ja, es gab eine allerdings friedliche und freiwillige Ausdehnung der westlichen Hemisphäre durch die EU einerseits und die NATO anderseits. Richtig ist auch, dass diese Entwicklung die – allerdings in keinem Völkerrecht anerkannte – Einflusszone Russlands eingeschränkt hat. Insofern handelt es sich um ein Null-Summen Spiel. Und Russland ist dabei der Verlierer. Und aus seiner Sicht hat es das Recht sich zu wehren.

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Aber es stehen sich nicht nur zwei Machtblöcke gegenüber sondern auch unterschiedliche Gesellschaftssysteme. Das ist die andere Seite der Münze, jedenfalls sieht der „Westen“ in den Entwicklungen einen Vormarsch des Raums der Freiheit und der Demokratie auf Kosten der Oligarchie und Autokratie. Und nach Ansicht des Westens befürchtet Präsident Putin, dass der Bazillus der Demokratie auf Russland überspringen könnte und Putin spricht ja auch von der westlichen Absicht, den russischen Präsidenten und damit die spezielle Form der russischen Demokratie zu stürzen. Der Westen ist auf „regime change“ aus. In der Ukraine ist das gelungen, für Russland soll das verhindert werden.

Da stellt sich allerdings gleich die Frage, ob ein solcher fundamentaler Machtwechsel (regime change) in der Ukraine stattgefunden hat. Sind bloß Oligarchen ausgetauscht worden oder wurde und wird das politische und wirtschaftliche System geändert? Nach dem letzten Besuch in Kiew kann ich da keine eindeutige Antwort geben. Die politischen Prozesse laufen sicher heute transparenter und unter dem Auge einer wachsameren Öffentlichkeit, insbesondere auch von VertreterInnen und NachfolgerInnen der Maidan Bewegung. Auch die jüngst beschlossenen Gesetze zur Justizreform und zum verantwortlichen Management öffentlicher Unternehmungen sind Beispiele dafür. Aber es kommt sehr auf die Durchführung und Implementierung an. Und da gibt es viel Widerstand und Blockaden. Ob das Glas der Reformen und Veränderungen nun schon halb voll und nur mehr halb leer ist oder welches Mischverhältnis nun die Lage adäquat beschreibt, ist schwer zu sagen.

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Dabei hilft auch die einseitig orientierte Politik der internationalen Finanzinstitute, vor allem des IWF nicht, die Dinge zu beschleunigen. Und es macht auch wenig Sinn zum Beispiel die Privatisierungen übers Knie zu brechen. Denn dann kann man kaum die besten Preise/Erlöse erringen und in der Folge sind es erst wieder die lokalen Oligarchen, die den Zuschlag bekommen. Auch für die Ukraine gilt, dass eine gut durchdachte Strategie der Reformen und der sozialstaatlichen Absicherung einen Transformationsprozess in Gang setzen kann, der dem ähnlich kommt, den West Europa nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgreich bewältigt hat. Sicher sind manche Voraussetzungen in der Ukraine andere, aber eine ausgewogene Strategie der Schaffung einer neuen Industrie und der Qualifizierung der Arbeitskräfte mit staatlicher Unterstützung hinsichtlich der Infrastruktur und einer effizienten – lokalen – Verwaltung könnte mehr bringen als die Überbetonung von Sparen und Kürzen nach dem neo-liberalen Modell.

Sicher erleichtert der Konflikt im Osten der Ukraine nicht die Reformanstrengungen. Glücklicherweise hört man das immer weniger als generelle Ausrede gegen die notwendigen Transformationen. Allerdings gibt es sehr widersprüchliche Haltungen und Handlungen gegenüber den UkrainerInnen in den Rebellengebieten. Mal bekommen die Menschen dort ihre Pensionen, mal nicht. Und das betrifft auch andere Versorgungsleistungen. Viele fühlen sich von „ihrer“ Regierung in Kiew allein gelassen. Man kann ja verstehen, dass die Regierung in Kiew nicht die Rebellen finanzieren will und auch Druck ausüben will, dass diese (und vor allem Russland) unter der Last der Finanzierung zumindest die Vereinbarungen von Minsk umsetzen und langfristig dem Separatismus abschwören. Aber es sind die Menschen in den Rebellengebieten die unter der „Sanktionshaltung“ leiden und die sich von allen verlassen vorkommen und es auch vielfach sind. Denn oft sind auch die Rebellen keineswegs gewillt für eine gute und attraktive Versorgung der Bevölkerung zu sorgen und Russland kommt dies auch zu teuer, insbesondere angesichts der wirtschaftlichen Schwierigkeiten in Russland selbst.

Wichtig wären also vor allem Lösungen für die Verbesserung der Versorgung für die Menschen in den unmittelbaren Krisengebieten zu finden. Nun gibt es nach wie vor bestimmte offizielle aber vor allem inoffizielle wirtschaftliche Beziehungen, in neuer Fachterminologie „connectivity“ genannt. Aber Geschäfte auf und über dem Schwarzmarkt mit den entsprechend hohen Gewinnmargen und damit Preisen können nie legale Handelsbeziehungen ersetzen. Wahrscheinlich müsste dann die Regierung in Kiew doch mit den Rebellen/Abtrünnigen reden, was sie aber nicht macht. Sie will sie nicht anerkennen und vor allem nicht Russland von der Schuld und Verantwortung für den Separatismus entlasten. Und die nationalistischen Kräfte in der Ukraine, die durch die von Russland freigelassene Kampfpilotin Sawtschenko verstärkt wurden, werden sicher auch weiterhin eine harte Linie fahren. Vielleicht sind sowohl der russische Präsident Putin und der ukrainische Präsident Poroschenko über die neue politische Rolle von Sawtschenko froh. Putin, weil sie Unruhe in die politische Landschaft der Ukraine bringt und Poroschenko, weil sie eine Rivalin zu Tymoschenko abgibt, die in den Umfragen weit vor Poroschenko liegt. Für Spannung in der ukrainischen Politik ist gesorgt. Aber auch das hilft den Menschen in der Ukraine insgesamt den besetzten bzw. Rebellengebieten nicht.

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Der Konflikt/Krieg ist also allgegenwärtig, auch in Kiew selbst, das ja weit weg von der eigentlichen Krisenzone liegt. Einerseits machen Plakate in den Straßen der Hauptstadt auf den Konflikt, der ja offiziell kein Krieg ist, aufmerksam: Es wird um Soldaten geworben und man erinnert an die Verfolgung der Krimtataren. Aber auch in den Galerien, so in der bekannten Galerie des „guten“ Oligarchen Pintchuk, wird auf die lange Geschichte von Kriegen in und um die Ukraine aufmerksam gemacht. Dabei wird auch auf die unterschiedlichen Interpretationen ein und desselben Ereignisses im Laufe der Geschichte und der wechselnden politischen Systeme hingewiesen.

Mit Ausnahme der Rebellen und der gut verdienenden Schmuggler sowie einigen Hardlinern auf ukrainischer und russischer Seite wollen wahrscheinlich alle diesen Krieg los werden. Aber jeder will das Gesicht wahren und keiner will der Verlierer sein. Wahrscheinlich müssen wir uns auf einen auf lange Zeit eingefrorenen Konflikt einstellen – hoffentlich nur auf einen eingefrorenen. Aber all die, die nicht in das politische Machtspiel eingebunden sind, sollten versuchen Brücken zu schlagen und der notleidenden Bevölkerung helfen. Wirtschaftliche Beziehungen und Kontakte sollten erhalten bleiben und neue geknüpft werden. KünstlerInnen aus den verschiedensten Sparten sollten sich treffen und gemeinsame Projekte präsentieren. Die humanitären Organisationen sollten sich trotz der immer wieder auftauchenden Hindernisse weiter bemühen, Hilfe zu den Betroffenen zu bringen. Parallel dazu sollte die Politik sich dennoch bemühen, Stolz und nationale Gekränktheit hintanzustellen und Wege des Dialogs zu finden.