Von Schlafwandlern und Nationalisten

Vor hundert Jahren, genau im August 1913, endete der zweite Balkankrieg. Aber damit kam kein Frieden in diese fragile Region. Denn ziemlich genau ein Jahr später begann der Erste Weltkrieg. Mit diesem Krieg beschäftigten sich viele Historiker, wird dieser „Große Krieg“ doch als die Jahrhundertkatastrophe betrachtet, die erst andere wie den Zweiten Weltkrieg, die Zweiteilung des Kontinents und das kommunistische Imperium möglich machte.

Das neueste Werk über den Ersten Weltkrieg stammt vom britischen Historiker Christopher Clark. Unter dem Titel „Die Schlafwandler“ untersucht er „wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“. Für viele Kommentatoren – vor allem aus Deutschland – war das Neue an dieser Analyse die Zurückweisung der These von der deutschen Hauptschuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs. In der Tat, Christopher Clark verteilt die Schuld auf mehrere Schultern. Es ist allzu offensichtlich, dass die Sieger die Schuld einseitig auf die Verlierer schoben und das noch existierende Deutschland gab dafür mehr her, als das zerteilte und aufgelöste Österreich – Ungarn.

Die Analyse von Christopher Clark bringt aber keine Entschuldigung oder gar Rechtfertigung für Deutschland oder die Österreich- Ungarische Monarchie. Sie versucht nur die Kriegsbegeisterung und zum Teil kriegstreibenden Kräfte auch in den anderen Ländern nachzuvollziehen. Und auch diejenigen Kräfte in allen Ländern, die versuchten die Katastrophe zu verhindern.

Dabei ist der serbische Nationalismus und die Bestrebungen Groß Serbien herzustellen an erster Stelle zu erwähnen. Frei nach dem Motto: wo immer ein Serbe wohnt ist Serbien. Und Serbien hat in den zwei Balkankriegen große Territorien dazu gewonnen, sich aber den Minderheiten in diesen Territorien gegenüber nicht gerade korrekt benommen. Vielfach kam es zu massiven Diskriminierungen und Vertreibungen. Und es hat sich massiv gegen die Selbständigkeit Albaniens gewandt.

Wenn man das Verhalten der serbischen Nationalisten während des Jugoslawienkriegs und bis in jüngster Zeit hinein im Kosovo betrachtet, so hatte sich in der grundlegenden Einstellung nicht viel geändert. Aber Europa ist heute nicht mehr in Machtblöcke gespalten, die sich für oder gegen Serbien stellen. Es muss versuchen Serbien schrittweise in die EU zu integrieren und damit auch mit den unmittelbaren Nachbarn zu versöhnen. Dass sogar die jetzige „nationalistische“ Regierung an dieser Integration interessiert ist und im Kosovo eine moderate Politik betreibt, ist ein sehr positives Zeichen. Und diese Anzeichen sollten mit positiven Schritten seitens der EU beantwortet werden.

Unterstützung hat Serbien von Russland bekommen, das dabei seine eigenen Interessen am Balkan, aber vor allem gegenüber dem Osmanischen Reich vertreten hat. Wichtig war für Russland Durchfahrtsrechte für seine Flotte durch den Bosporus und die Dardanellen zu erhalten. Das Interesse an einer Präsenz nicht nur am Balkan selbst sondern im -östlichen- Mittelmeerraum ist ja auch noch heute sehr erkennbar. Russlands starke Unterstützung für Serbien und sein Verhalten in der Syrienfrage ist eindeutig davon geprägt. Russland ist wahrscheinlich die europäische Macht, die sehr ähnliche diplomatische und machtpolitische Verhaltensweisen an den Tag legt wie in Zeiten vor dem Ersten Weltkrieg.

Als die Schüsse von Sarajevo fielen und den Thronfolger und dessen Frau töteten, war die Lage in Europa durch sehr unterschiedliche Interessen gekennzeichnet. In allen Staaten gab es führende Militärs und zivile Politiker, die sich besser früher als später den „unvermeidlichen“ Krieg wünschten. Man fürchtete der potentielle Feind würde einem in der Aufrüstung überholen und dem wollte man durch einen Krieg zuvorkommen. Niemand hat ernsthaft versucht durch eine diplomatische Offensive den Konflikt zwischen Serbien und Österreich- Ungarn zu lösen. Ohne entsprechende Unterstützung der beiden Kontrahenten hätte ein Krieg verhindert werden können, oder er hätte sich nicht zu einem Weltkrieg ausdehnen können.

Es ist eine Groteske der Geschichte, dass der reform- und friedensorientierte und auch slawophile Thronfolger von serbischen Nationalisten umgebracht wurde und damit sein kriegstreibender Widersacher, der Österreich-Ungarische Armeechef Conrad von Hötzendorf die Oberhand gewann. Und im Laufe der Wochen nach dem Attentat gewannen in allen Ländern die Kriegsinteressierten die Oberhand. Aber abgesehen von einzelnen Personen zeigt die tragische Geschichte Europas am Beginn des letzten Jahrhunderts, dass Schlafwandler, aber vor allem Nationalisten Europa in das Chaos stürzten.

Leider gibt es diese Kategorie von Politikern auch heute noch. Es gibt die Schlafwandler, die nicht erkennen, dass angesichts der globalen Entwicklungen wir unsere Interessen nur gemeinsam vertreten können. Sie nörgeln an der EU herum, aber nicht um sie zu verbessern und sie in wesentlichen Punkten zu stärken, sondern um sie zu schwächen. Manche von ihnen wollen den Rückwärtsgang einlegen. Und es gibt leider auch wieder verstärkt Nationalisten, die die EU und ihre Erfolge direkt in Frage stellen und aktiv an der Zerstörung arbeiten. Die ersteren haben nicht aus der Geschichte gelernt, die zweiten wollen gar nicht aus der Geschichte lernen. Wir sollten das aber tun und weder den Schlafwandlern noch den Nationalisten eine Chance geben.