Gleichgewichtsstörungen

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Roma-Siedlung in Belgrad

Die Ausweisung von Roma aus Frankreich, die verspätete, aber dann scharfe Reaktion der EU-Kommission an dieser Praxis bzw. den dahinterliegenden Motiven und die unangemessene Reaktion von Sarkozy darauf sind symptomatisch für den Zustand der EU heute. Der Vertrag von Lissabon hat nicht das erhoffte Gleichgewicht zwischen den EU-Institutionen gebracht und vor allem nicht die Stärkung der Gemeinschaftsmethode innerhalb der EU – jedenfalls noch nicht.

Populistische Rattenfänger 

Parallel zur Ausarbeitung und dann zum Inkrafttreten des neuen Vertrags gab es nämlich andere Entwicklungen, die die Umsetzung der Ziele des Vertrags und seine Auswirkungen zumindest gebremst haben. In den letzten Jahren haben sich bereits zunehmend europaskeptische Tendenzen bemerkbar gemacht. Diese wurden von einigen, vor allem extrem rechten Parteien genährt. Der Populismus hat dabei einen großen Aufschwung genommen, und vielfach gab es einen Wettbewerb um das populistischste Wahlprogramm. Die WählerInnen waren angesichts der Unterbrechung des langfristigen Wirtschaftsaufschwungs und des Ausbaus des Wohlfahrtstaates verunsichert und für die leichten Rezepte der populistischen Rattenfänger empfänglich.

Selbst Politiker, die es besser wussten, haben sich oft nicht getraut, auf die realen Probleme und tieferen Ursachen der neuen Entwicklungen hinzuweisen. Solche Entwicklungen sind vor allem der Alterungsprozess in unseren Gesellschaften und die globalen politischen und wirtschaftlichen Verschiebungen in Richtung Asien und die anderen neuen Schwellenländer. Und die Konservativen, die daraus Reformkonsequenzen gezogen haben, haben die sozialen Dimensionen solcher Reformen oftmals „vergessen“. Für sie waren die Reformen vielfach Anlass, ihre ideologischen Konzepte des schwachen Staates, also der Verminderung staatlicher Eingriffe, in die Tat umzusetzen.

Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit und Islamohopie

Die Sozialdemokratie war angesichts der Struktur ihrer traditionellen Wählerschaft besonders durch die populistischen Attacken von Rechts gefährdet. Fremdenfeindlichkeit, Islamophobie etc. fielen bei den geringer ausgebildeten, stärker von Arbeitslosigkeit und Armut bedrohten Menschen auf fruchtbaren Boden. Das bewirkte in manchen sozialdemokratischen Parteien auch eine gewisse Anfälligkeit gegenüber dem Populismus, auch wenn bestimmte ideologische Reste meist die Versuchung zum Populismus abbremsten. Aber genau das beeinträchtigte angesichts populistischer Tendenzen und Medien auch die Wahlchancen mancher sozialdemokratischer Parteien.

Fremdenfeindlichkeit und die Verteidigung der christlichen Werte gegen den „artfremden“ Islam sind typisch national orientierte Strömungen. Damit wurde der Nationalismus gestärkt und Europa, das einerseits für die Schwächung des Wohlfahrtstaates und anderseits für die starke Migration verantwortlich gemacht wurde, in Misskredit gebracht. Hinzu kam das zögerliche Reagieren auf die Finanz- und Wirtschaftskrise. Und viele PolitikerInnen haben es verstanden, auf dieser antieuropäischen Welle zu reiten. Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit und Islamohopie gehen Hand in Hand und versuchen gemeinsam den europäischen Einigungsprozess rückgängig zu machen.

 Sarkozy und Berlusconi 

Diese Vorgehensweise trifft in radikaler Weise auf die extrem rechten Parteien zu. Aber dort, wo es nützlich erscheint, bedienen sich auch PolitikerInnen der Mitte dieser Haltungen. Sarkozy tat das mit der gezielt gegen die Roma gerichtete Auflösung der illegalen Lager und der Ausweisung von Roma – unabhängig davon, ob sie sich eines Verbrechens schuldig gemacht haben oder nicht. Der anfänglich ohnedies zurückhaltenden Kritik seitens der EU-Kommission wurden beschwichtigende Worte entgegengehalten und die wahren – innenpolitischen – Motive wurden versteckt. Nachdem diese allerdings durch die Veröffentlichung eines Rundschreibens des französischen Innenministeriums sichtbar wurden und die Kommission im und vom EU-Parlament (nicht zuletzt von mir) heftig für ihre schwache Haltung kritisiert wurde, reagierte diese heftig.

Dies wurde wiederum von Sarkozy zum Anlass genommen, die EU-Kommission und vor allem Kommissionspräsident Barroso heftig zu attackieren. Und Europaminister Lellouche meinte, so könne man nicht mit einem großen(!) Mitgliedsland umspringen. Im Umkehrschluss heißt das, dass nach Meinung der französischen Regierung die EU-Kommission nur gegenüber kleinen Ländern – wie z.B. Österreich – kritisch vorgehen darf. Die ausdrückliche Unterstützung seitens Berlusconis und das Schweigen Deutschlands und anderer großer Mitgliedsländer zeigen eine gewisse Sympathie für diese Haltung. Im Übrigen hat der italienische Ministerpräsident in einem Interview kürzlich gemeint, dass alle Krisen in den letzten Jahren durch Sarkozy und ihn bzw. besser durch ihn und Sarkozy gelöst worden sind. Europa kam in diesem Interview nur als Instrument französischer und italienischer Politik vor.

Unterminierungsversuche

Abgesehen von der Roma-Problematik selbst, die für mich sehr wichtig ist, wird zweierlei deutlich. Erstens greifen Staatsmänner, die sich oft sehr pro-europäisch geben, wenn es ihnen innenpolitisch geboten erscheint, auf europäisches Recht verletzende Aktionen zurück. Wenn sie dafür von der dazu berufenen EU-Kommission kritisiert werden, dann schlagen sie zweitens scharf zurück. Das macht deutlich, dass viele Regierungschefs nicht einmal die alte Rechtslage und die darin enthaltene Aufgabenverteilung akzeptieren. Und die gestärkte Rolle der Kommission, insbesondere auch in der Verteidigung der im Vertrag von Lissabon enthaltenen Grund- und Freiheitsrechte, wollen manche überhaupt nicht akzeptieren.

Die Versuche, den Regierungen und dem Rat auch wieder eine stärkere Rolle zu geben und so den Vertrag von Lissabon zu unterminieren, zeigen sich auch bei der Frage, wie die Wirtschaftsregierung, und das heißt die Wirtschaftskoordination in Europa, gestärkt werden soll. Einige Regierungen wollten nicht, dass die Kommission ihren Aufgaben und Verpflichtungen nachkommt und entsprechende Vorschläge schon vor dem Rat bzw. vor der von den Regierungschefs gegründeten „task force“ vorlegt. Dabei hat der Rat ohnehin nichts zusammengebracht, da sich die Regierungen nicht auf ein gemeinsames Konzept einigen konnten.

Den Vertrag von Lissabon verteidigen

Sicher ist auch die EU-Kommission nicht ganz unschuldig an dieser Entwicklung, da sie das Feld zulange dem Rat überließ und auch zu wenig mit dem Parlament als Verbündeten zusammenarbeitete. Ich verstehe schon, dass die Regierungschefs in vielen Fällen eine starke Position haben und auch permanente Konflikte zwischen ihnen und der Kommission der europäischen Einigung schaden. Aber da müssen wir durch. Die EU-Kommission und das Parlament müssen den Vertrag von Lissabon und den darin verankerten Geist verteidigen. Wir müssen uns gegen die Unterminierung des Vertrags wehren. Dabei müssen wir geschickt vorgehen und versuchen, auch unseren BürgerInnen zu vermitteln, dass es dabei nicht um eine abstrakte Machtfrage geht, sondern um die optimale Möglichkeit, die Probleme im Interesse unserer Bevölkerung zu lösen. Vor allem geht es um den globalen Auftritt der EU.

Die anderen Regionen und Länder dieser Welt schlafen nicht, und sie erfreut jede Schwächung Europas durch unsere inneren Streitereien. Vor allem freuen sie sich auch über den wachsenden Nationalismus und die Tendenzen der Abschottung und der Neigung zur europäischen oder vielmehr nationalen Nabelschau. Der Vertrag von Lissabon hatte auch den Sinn, Europa auf die globalen Auseinandersetzungen vorzubereiten. Dazu ist es aber bis jetzt nicht gekommen.

Wien, 19.9.2010