Sozialdemokratische Außenpolitik, Lissabon und die (Wiener) Wahl

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Stockholm

Wie fast jede Woche so war auch die jüngste Fraktionswoche von außenpolitischen Themen beherrscht. Einerseits ging es um die letzten Beschlüsse, um den neuen Diplomatischen Dienst der EU etablieren zu können.

Diplomatischer Dienst

Streitpunkt dabei war die Frage, wie schnell eine geografische und geschlechtliche Ausgeglichenheit bei den Postenbesetzungen erreicht werden sollte. Strikte Quotenregelungen forderten die einen, die anderen hingegen befürchteten dabei den Vorrang der Quotenerfüllung vor der Qualität und der Kompetenz. Die Mehrheit der Fraktion entschied sich für einen gesetzlichen Auftrag an die Hohe Beauftragte, allerdings ohne Quotenregelung.
Dass uns das Thema der regionalen und geschlechtlichen Ausgewogenheit wichtig ist, konnten wir auch in einem Gespräch mit der Hohen Beauftragten Cathy Ashton klarmachen. Wie immer ist sie im persönlichen Gespräch sehr überzeugend. Ich hoffe, dass wir nach den letzten notwendigen Beschlüssen für den neuen Diplomatischen Dienst der EU beginnen können, auch über die Inhalte und Schwerpunkte der Gemeinsamen Außenpolitik zu diskutieren und die Strategien festzulegen.

Nachbarschaftspolitik

Selbstverständlich bleiben auch im Parlament die konkreten außenpolitischen Aktivitäten nicht stehen. So traf ich den neuen albanischen Außenminister, den ich schon auf Grund seiner früheren Funktionen gut kenne, sowie den serbischen Verteidigungsminister, der mich daran erinnerte, dass er mich vor vielen Jahren als Praktikant in unserer Fraktion kennengelernt hat.

Ausführliche Gespräche gab es auch mit dem ukrainischen Ministerpräsidenten Azarov. Wir versuchen, ihn in seiner wichtigen Arbeit bei unserem Nachbarn zu unterstützen. Aber das ist keine kritiklose Unterstützung, denn von den Menschenrechten bis zur Freiheit der Medien und der Kontrolle der Geheimdienste haben wir unsere Positionen klar gemacht. Diese Art der Zusammenarbeit sollte für eine sozialdemokratische Fraktion typisch sein: Wir wollen helfen, dass unsere Nachbarn die „Europäisierung“ der Gesellschaft erreichen, aber wir sollten nie die konkreten Maßnahmen unkritisch beobachten und verfolgen.

Konferenz zur Sicherheits- und Außenpolitik

Aber all diese punktuellen außenpolitischen Aktivitäten sollten Teil einer kohärenten Strategie sein, die die sozialdemokratischen Positionen widerspiegeln. Deshalb habe ich gerne die Einladung zu einer diesbezüglichen Tagung in Stockholm angenommen. Das Olaf Palme-Institut hat, unterstützt von der Stiftung für Progressive Studien, die der europäischen Sozialdemokratie nahe steht, dazu eingeladen.

Gemeinsam mit dem ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten und späteren Außenminister Massimo D`Alema und der Präsidentin des Europäischen Gewerkschaftsbundes Wanja Lundby-Wedin sollte ich den Abschluss der Konferenz über die Gemeinsame Sicherheitspolitik bestreiten. Dabei war klar, dass heute über Sicherheits- und Außenpolitik nicht ohne Hinweise auf die neue Lage auf Grund des Vertrags von Lissabon diskutiert werden kann. Aber auch die jüngsten Wahlergebnisse in den Niederlanden, Schweden und zuletzt in Wien spielten in den Debatten eine große Rolle.

Führungspersönlichkeiten fehlen

Bei der Tagung im „Internationalen Olaf Palme-Zentrum“ war es selbstverständlich, dass ich auf das starke sozialdemokratische Trio Palme, Kreisky und Brandt verwies. Leider fehlen uns heute politische Führungspersönlichkeiten mit diesen Visionen und der entsprechenden Gestaltungskraft. Das betrifft ja nicht nur die Sozialdemokratie, aber da ist es für mich besonders schmerzlich. Und drei sozialdemokratische Premierminister kämpfen angesichts der wirtschaftlichen Probleme in ihrem Land mit dem – politischen – Überleben: Zapatero, Socrates und Papandreou.

So bleiben unter den jetzigen Regierungen für eine aktive Handschrift sozialdemokratischer Außenpolitik nicht viele Akteure übrig. Vor diesem Hintergrund ist es gut, dass der Vertrag von Lissabon neue AkteurInnen ins Spiel gebracht hat: die Hohe Beauftragte für die Außen- und Sicherheitspolitik, also die Außenministerin der EU und das EU-Parlament auf Grund seiner verstärkten Mitwirkungsrechte, die ihm der Vertrag von Lissabon gebracht hat.

Innenpolitische Bestimmungen der Außenpolitik

Wie immer wir es betrachten, die innenpolitischen Verhältnisse haben auch einen starken Einfluss auf die Außenpolitik. Je mehr Faktoren eine Rolle spielen, die direkt das Verhältnis zur Außenwelt beeinflussen, umso stärker wirkt sich diese Interdependenz aus. Und da sind zwei Faktoren zu erwähnen: einerseits die Zuwanderung und anderseits – damit zusammenhängend – die verstärkte Fremdenfeindlichkeit und insbesondere die sich breit machende Islamophobie.

So haben die letzten Wahlergebnisse, zum Beispiel in den Niederlanden und in Schweden, aber auch das Resultat in Wien, jene Kräfte gestärkt, die die Zuwanderung zum Anlass genommen haben, ihre fremdenfeindlichen und islamophoben Ansichten in den Wahlkämpfen lautstark vertreten haben. Vor allem letztere Einstellung und Bejahung durch einen nicht unbeträchtlichen Teil der WählerInnen bringt ein hohes Sicherheitsrisiko mit sich. Irregeleitete „Verteidiger“ des Islam könnten versuchen, mit terroristischen Aktionen den „Westen“ für die Diskriminierung und Beschimpfung des Islam zu bestrafen. Natürlich dürfen solche Gefahren Kritiker nicht mundtot machen. Aber die pauschalen und unqualifizierten Äußerungen müssen auf eine klare Antwort nach außen, aber auch nach innen stoßen.

Kombination von Wut und Angst

Die verstärkte Zuwendung zu den rechts-extremen Parteien in Europa hat selbstverständlich verschiedene Wurzeln. Eine engstirnige Ablehnung alles Fremden, insbesondere wenn es mit Armut verbunden ist wie bei den Roma und vielen MigrantInnen, christlicher Fundamentalismus, aber auch die Gefährdung wohlerworbener Rechte bzw. wohlfahrtstaatlicher Leistungen sind für den Rechtstrend verantwortlich.

Viele meinen, dass aus einem reinen Protestvotum heute eine Verteidigung der Identität geworden ist. Wahrscheinlich haben wir es mit einer Kombination beider Phänomene zu tun: den „Wutbürgern“, die in der Wahlzelle ihren Ärger äußern und denjenigen, die eine Überfremdung und den Verlust ihrer Identität befürchten, sich zu Hause einfach nicht mehr fühlen.

In den Dialog eintreten

Wie immer der Protest im Einzelfall zusammengesetzt ist, er bewirkt auch eine antieuropäische Haltung und schwächt damit das gemeinsame Auftreten der EU nach außen. Wir müssen eine klare Haltung gegen Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie einnehmen, da darf es keine Kompromisse geben. Aber ebenso müssen wir in einen verstärkten Dialog mit jenen WählerInnen eingehen, die der Sozialdemokratie den Rücken zugekehrt haben.
Wir müssen ihnen zuhören und konkrete Probleme lösen, mit denen sie sich konfrontiert sehen. Vor allem müssen wir ihnen wieder das Gefühl geben, dass sie einen Ansprechpartner für ihre Sorgen und Nöte haben. Und wir müssen klar stellen, dass unsere Gesellschaftsauffassung niemanden ausgrenzt: weder die Zuwanderer noch die „Einheimischen“. Denn in manchen Wohngebieten und manchen Schulklassen sind die Menschen mit Migrationshintergrund in der Mehrheit. Und Mehrheiten sind immer versucht, Minderheiten auszugrenzen. Ohne eine verbesserte Kommunikation mit der enttäuschten Wählerschaft und ohne klare Integrationsstrategie werden wir auch außenpolitisch geschwächt auftreten können. Sehr oft haben wir uns weder um die Integration der Zuwanderer gekümmert, noch um die Ängste derer die in der Zuwanderung eine diffuse Bedrohung sahen.

Neue globale Verhältnisse

Noch vor zwei bis drei Jahrhunderten waren China und Indien gegenüber Europa viel stärkere wirtschaftliche Mächte. Sie dominierten den Welthandel. In den Jahrzehnten danach hat sich das umgekehrt: Europa und dann die USA gewannen den wirtschaftlichen Wettlauf. Aber nun scheint es, dass es sich dabei eher um eine vorübergehende Periode handelt oder schon bald gehandelt haben wird, da sich die wirtschaftlichen Gewichte wieder Richtung China, Indien, Brasilien etc. verschieben.

Diese Gewichtsverlagerungen zu bevölkerungsreichen, dynamischen Ländern, die noch vor einiger Zeit zum Armenhaus dieser Welt gezählt wurden, gefährden unsere Wohlfahrtsgesellschaften. Denn gut ausgebildete Arbeitskräfte zu niedrigeren Löhnen und aufstrebende Unternehmer machen uns Konkurrenz. Jedenfalls dann, wenn wir uns nicht anstrengen, mit ihnen in der Leistung und der Kreativität (z.B. durch vermehrte Anstrengungen in Forschung und Entwicklung) mitzuhalten.

Es darf keine Globalisierungsopfer geben

Wieder liegt es an der Sozialdemokratie, den vor allem davon betroffenen unteren und mittleren Schichten die neuen Verhältnisse klarzumachen. Und es liegt an ihr, dafür zu sorgen, dass es möglichst keine Globalisierungsopfer gibt. Dafür brauchen wir aber genügend gut ausgebildete Arbeitskräfte und flexible Klein- und Mittelbetriebe. Ohne Migration wird dies allerdings auf Grund der „Überalterung“ unserer Gesellschaften nicht gehen. Auch das gilt es, in einem ehrlich geführten Dialog klarzumachen und eine kontrollierte Zuwanderung in die Tat umzusetzen.

Zuallererst muss man aber alle bestehenden Reserven am jeweiligen Arbeitsmarkt ausnützen und die Ausbildungsangebote verbessern. Diese Anstrengungen müssen auf nationaler Ebene erfolgen, aber die Europäische Union insgesamt muss hier klare Zielvorgaben festlegen.

Bezeichnende Begebenheit

Im Rahmen der Diskussion unserer Referate auf der Stockholmer Tagung erzählte Massimo D´Alema von einer Begebenheit, die ein bezeichnendes Licht auf die neuen globalen Verhältnisse wirft. Als er und zwei weitere europäische Ministerpräsidenten zum Zeitpunkt der beginnenden Irakintervention beim chinesischen Staatspräsidenten weilten, beklagten sie sich über den Unilateralismus der USA.

Das chinesische Gegenüber reagierte gelassen und meinte, in einigen Jahren würden die USA ohnehin über alle wichtigen Fragen mit China verhandeln müssen. Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu, dass auch Europa an diesem Verhandlungstisch sitzen werde, allerdings nur, wenn es geeint auftrete! Mehr braucht man dazu nicht zu sagen.

Wertorientierung und Pragmatismus

So wie in der Innenpolitik brauchen wir auch in der Außenpolitik eine Kombination von klaren Werthaltungen und pragmatischem Vorgehen. Die Sozialdemokratie darf niemals auf die Betonung der universellen Menschenrechte – und dazu gehören auch die speziellen Rechte der Minderheiten – verzichten. Aber im Interesse unserer BürgerInnen müssen wir auch die wirtschaftlichen Interessen vertreten.

Gegenüber China zum Beispiel heißt dies, dass wir den Respekt vor den Menschenrechten und vor allem auch vor den sozialen Rechten einfordern. Aber ebenso müssen wir uns gegen ein Preisdumping und gegen die Verletzung von Patentrechten und des geistigen Eigentums wehren. Auf der anderen Seite hingegen haben wir ein großes Interesse, China und Russland bei der Modernisierung der Wirtschaft und vor allem bei der ökologischen Umgestaltung des Energiesystems zu helfen.

Aus den Schwächen lernen

Als SozialdemokratInnen, die wir strenge Maßstäbe an die Gestaltung einer gerechten und sozialen Gesellschaft stellen, müssen wir aber auch anerkennen, dass nicht alles veränderbar ist, was wir verändert sehen wollen – und schon gar nicht durch militärische Interventionen. Und wenn solche unvermeidlich sind, dann muss von Anbeginn der zivile Aufbau nach der militärischen Aktion mitbedacht werden.

Dies war weder bei der ungerechtfertigten Intervention im Irak noch bei der verständlichen Verteidigungsaktion in Afghanistan der Fall. In beiden Fällen haben einige sozialdemokratisch geführte Regierungen versagt und sind den USA auf den Leim gegangen. Im Übrigen hat sich hier auch die Schwäche der überschätzten USA als Weltmacht gezeigt, genauso wie im Falle des Nah-Ost-Konflikts. Eine sozialdemokratische außenpolitische Strategie für Europa muss aus diesen Schwächen lernen und entsprechende Alternativen anbieten.

Good governance

Unsere werteorientierte Außenpolitik stößt allerdings auch dann an Grenzen, wenn andere Länder wie vor allem China eine Außenpolitik ohne solche Bedingungen und rein nach politischen und wirtschaftlichen Interessen betreiben. Da sind wir dann oft im Nachteil, zumindest kurzfristig. Allerdings sollten wir gerade bei der Entwicklungspolitik nicht auf die Einhaltung bestimmter Mindeststandards und der Prinzipien von „good governance“ verzichten.

Dasselbe gilt für den Abschluss von Freihandels- und Assoziierungsabkommen. Das erspart uns allerdings im EU-Parlament nicht, im Einzelfall zu überprüfen, ob man den Menschenrechten mehr hilft, indem man ein solches Abkommen z. B mit Kolumbien oder Turkmenistan ablehnt oder hofft, dass sich durch eine Zustimmung die Verhältnisse verbessern.

Das EU-Parlament als neuer Mitspieler

Außenpolitik entzieht sich traditionellerweise der parlamentarischen Beschlussfassung und Kontrolle. Wird sie zu sehr parlamentarisiert, dann verringert sich der Verhandlungsspielraum der Regierungen, vor allem der Außenminister. Dennoch hat der Vertrag von Lissabon, zum Leidwesen der europäischen Außenminister, dem Parlament auch in diesen Fragen mehr Kompetenzen eingeräumt.

So müssen sich die einzelnen nationalen Außenminister jetzt nicht nur mit einer EU-Außenministerin, die auch den Vorsitz im Außenministerrat führt, herumschlagen – wie übrigens auch die Verteidigungsminister. Aber sowohl für das Budget als auch für den Abschluss internationaler Verträge bedarf es auch der Zustimmung des EU-Parlaments. Sogar die Änderung des „Personalstatuts“ um die entsprechenden Botschafternominierungen bedurfte der parlamentarischen Zustimmung.

Verantwortung zeigen

Jetzt kommt es darauf an, mit diesen neuen Kompetenzen verantwortlich umzugehen. Wie oben bereits angeführt gilt es, eine ausgewogene und mehrere Interessen berücksichtigende Außenpolitik in die Tat umzusetzen. Das EU-Parlament, das sich oftmals vorrangig als die Hüterin und Verteidigerin der Menschenrechte gesehen hat, muss jetzt zusätzlich auch die politischen und wirtschaftlichen Interessen vertreten. Erfolgreiche außenpolitische Strategien dürfen nicht zu kurz greifen und müssen langfristig angelegt sein. Dabei ist sicher eine gute Zusammenarbeit seitens des Parlaments mit der Hohen Beauftragten sowie dem Rat und der Kommission vorteilhaft.

Der Vertrag von Lissabon hat die Konstruktion der EU nicht einfacher gemacht. Aber er hat den Diplomatischen Dienst mit der Hohen Beauftragten, die gleichzeitig Vizepräsidentin der EU-Kommission ist, an dessen Spitze geschaffen und das Parlament gestärkt. Wenn vor allem diese beiden Institutionen zusammenarbeiten und die sicher zu Beginn unvermeidlichen Reibereien bald vergessen werden, kann der Vertrag von Lissabon zu einer Stärkung der EU führen. Und dann können auch einige Störmanöver mancher Außenminister abgewendet werden.

Stockholm, 16.10.2010