Auf dem „Dritten Weg

Ein sogenannter „Runder Tisch“ der britischen Labour-Party zum kommenden wirtschafts- und sozialpolitischen Gipfel in Lissabon stand im Mittelpunkt meines Londonaufenthaltes. 
Am Ende einer wie üblich etwas stressigen Straßburg-Plenarwoche flog ich diesmal nach Brüssel, um anschließend – zum ersten Mal – mit dem Zug „Eurostar“ unter dem Tunnel hindurch nach London zu fahren.

Menschenrechte sind unteilbar

In Straßburg waren diesmal unter anderem das legislative Programm der Kommission für das Jahr 2000 sowie ein Paket von Berichten zur Lage der Menschenrechte zur Debatte gestanden. In beiden Fällen habe ich mich zu Wort gemeldet (siehe dazu auch „Reden im Europäischen Parlament“).
Bezüglich der Diskussion zum Kommissionsprogramm sprach ich als erster unserer Abgeordneten, um einige grundsätzliche Fragen anzuschneiden. Bei der Menschenrechtsdebatte war ich einer von vielen. Aber gerade angesichts der Debatte in und um Österreich schien es mir wichtig, die Unteilbarkeit der Menschenrechtsfrage und ihre Gültigkeit für alle Länder darzustellen. Im besonderen galt es, die Unterstützung unserer Fraktion für die unterschiedlichen Minderheiten in den Erweiterungsländern auszudrücken.
Im weiteren Verlauf der Woche ging es dann noch um eine von Europa weit entfernte Minderheit, die der Moslems in Indien im Kashmir-Gebiet. Auch dazu nahm ich namens meiner Fraktion Stellung (siehe dazu ebenfalls „Reden im Europäischen Parlament“).

Vorbereitung zum Lissaboner Beschäftigungsgipfel

Die vergangenen eineinhalb Tage in London haben die Arbeit in Straßburg allerdings schon wieder verdrängt. Anlaß meines Londonaufenthalts war eine Konferenz, ein sogenannter „Runder Tisch“ der britischen Labour-Party zum kommenden wirtschafts- und sozialpolitischen Gipfel in Lissabon.
Die britische Labour-Regierung ist sehr intensiv bemüht, den „Dritten Weg“ der Sozialdemokratie mit einer stärkeren Betonung der Selbstverantwortlichkeit, der Ausbildung und Erziehung im Sinne des lebensbegleitenden Lernens, der Reduktion von Hindernissen gegen Betriebsneugründungen und gegen die Schaffung neuer Jobs nicht nur im eigenen Land durchzusetzen, sondern auch zum Modell für Europa zu machen.
Bereits in Straßburg hatten wir angesichts einer Parlamentsdebatte mit dem portugiesischen Premierminister Guterres und der „Notwendigkeit“, sich mit den anderen Fraktionen auf eine Resolution zum Lissabon-Gipfel zu einigen, eine heftige Diskussion in der Fraktion zum Thema Beschäftigungspolitik. Vielen waren die aktuelle sozialdemokratische Neuorientierung und erst recht die Kompromisse mit den anderen Gruppierungen im Parlament zu wenig Ausdruck einer eigenständigen Sozialpolitik.
Aber Blair, Schröder und zuletzt auch D´Alema drängen nach mehr Flexibilität, dem Abbau von Bürokratie, dem Aufbau von unternehmerischer Initiative und Dynamik sowie nach verstärktem Einsatz der modernen Kommunikationstechnologien. Die britische Labour-Party unter Tony Blair setzt dabei besondere Schritte , um die europäische Sozialdemokratie vom Dritten Weg zu überzeugen. Diese Woche hatte mich schon der britische Botschafter besucht, um mir diese Philosophie zu vermitteln, und auch die Message hier beim Runden Tisch in London, vor allem durch Außenminister Robin Cook vorgetragen, hat dasselbe zum Ausdruck gebracht.

Traditionelle versus „neue“ Sozialdemokratie

Die Konflikte mit der traditionellen sozialdemokratischen Position waren offensichtlich: hohe Steuern im Interesse der Arbeitsplatzschaffung gegenüber Steuersenkungen, stark egalitäre Politik gegenüber Anerkennung der Ungleichheit, insofern sie einem höheren Wohlfahrtsniveau dienlich ist. Im Falle der Migration legt die traditionelle Position Wert auf die Asylgewährung politisch Verfolgter und sozial Schwacher. Der Dritte Weg will hochqualifizierte leistungsorientierte Arbeitskräfte für die Jobs in den Informationstechnologien. Wie es ein Redner zuspitzte: Roma und Sinti aus Rumänien gegen strebsame Inder und Chinesen.
Noch etliche Gegensatzpaare könnten angeführt werden, aber ich glaube, die unterschiedlichen Ansätze sind klar: die traditionelle Sozialdemokratie kümmerte sich vor allem um die Umverteilung des Erwirtschafteten, heute steht die optimale Mobilisierung der Ressourcen im Vordergrund.
Umgekehrt, um die Dinge nicht verzerrt zu zeichnen, gibt es heute einen viel umfassenderen Ansatz in der Sozialpolitik. Es geht nicht nur um finanzielle Kompensation im Falle von Einkommensverlusten, sondern verstärkt um Prävention und um gesellschaftlichen Einschluß, also um die Verhinderung des Ausschlusses im Fall von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Pension, etc. Die – wenn auch nicht gleichberechtigte – Teilnahme an allen gesellschaftlichen Phänomenen ist das Ziel, zumindest sollen alle Menschen dafür „befähigt“ werden.

Sowohl-Als auch

In der Realität geht es in vielen Fällen um ein Sowohl-Als auch, also um finanzielle Ersatzleistungen und um gesellschaftliche Einbindung, um den staatlichen Einfluß auf die Schaffung von Arbeitsplätzen und um die Befähigung des Einzelnen, einen Job zu finden und auch zu behalten. Dennoch, die neue Sozialdemokratie muß viel differenzierter und überlegter denken und handeln, so meint jedenfalls der Dritte Weg.
Daß diese neuen Überlegungen und Strategien gerade dann angestellt und propagiert werden, wenn die Globalisierung der Wirtschaft den Menschen eher als Gefahr denn als Chance erscheint, macht die Aufgabe der Sozialdemokratie doppelt schwierig. Dabei kann sie nur erfolgreich sein, wenn sie ihre Ziele auf europäischer Ebene umsetzt – die nationale greift dazu viel zu kurz. Vor diesem Hintergrund ist vor allem Großbritannien selbst gefordert, europäische Überzeugungsarbeit im eigenen Land zu leisten. Denn sowohl eine bessere Koordinierung der Wirtschafts-, insbesondere der Steuerpolitik als auch die Verankerung der Grund- und Freiheitsrechte im europäischen Vertragswerk stößt in Großbritannien – wenngleich nicht nur dort – auf Widerstand.

Der Kampf geht weiter

Die wenigen Stunden, die ich außerhalb des Konferenzortes verbrachte, bot sich mir London als nach wie vor äußerst lebendige Metropole. Sie dürfte aber noch an Qualität gewonnen haben. Die vielen Restaurants und Bars, die Grünanlagen und Parks sind Ausdruck einer dynamischen und reichen Gesellschaft. Dennoch, selbst die bescheideneren und wahrscheinlich realistischeren verteilungspolitischen Zielsetzungen sind auch hier noch nicht erreicht. Der Kampf gegen den gesellschaftlichen Ausschluß geht weiter.
Und den muß Tony Blair genauso gewinnen wie er die öffentliche Meinung für Europa und insbesondere für den Euro gewinnen muß. 
London, 18.3.2000