Auf dem Weg zum Dialog

Wir sollten Polen die Chance geben, das, was das Land unter der alten Regierung verloren hat, aufholen zu können. 
Von Krakau bin ich nach Warschau weiter gereist – diesmal mit dem Zug, der fast jede Stunde von Krakau aus startet. Es war schön, in die Schneelandschaft hineinzufahren und langsam die Dämmerung in einer scheinbar sehr unberührten Landschaft zu erleben.
Von der altehrwürdigen Stadt Krakau ging es also in die Hauptstadt Polens, die wenig von dem alten Stil zeigt. Das wenige, was man zu sehen bekommt, wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut. Warschau wurde ja von den Nazis dermaßen zerstört, dass kaum etwas von der alten Struktur erhalten geblieben ist.

Hardliner-Positionen

Noch am selben Abend traf ich den Chefverhandler Polens mit der Europäischen Union, Jan Truszcynski. Dieses Treffen gab mir einen sehr prägnanten Überblick über die in den letzten Wochen von der polnischen Regierung definierten Positionen und die Veränderungen der Positionen der alten Regierung. Die alte Regierung hat es sich sehr leicht gemacht. Sie ist auf den harten Positionen stehen geblieben. Sie wollte 18 Jahre Übergangsregelung für den Ankauf von Grund und Boden. Und sie hat sich geweigert, bei den Übergangsfristen für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer – ein spezieller Wunsch Deutschlands und Österreichs, nachzugeben bzw. diesem Wunsch entgegenzukommen.
Das, was jetzt vernünftigerweise angeboten wurde und jede Regierung hätte akzeptieren müssen, ist in Polen jedenfalls auf keine Gegenliebe gestoßen, und wahrscheinlich hätte man die Kompromissangebote auch der Bevölkerung etwas sorgfältiger übermitteln müssen. Gerade auch in Hinblick darauf, dass es ein Versäumnis der alten Regierung war, in dieser Frage entsprechende Kompromissbereitschaft zu zeigen.

Europa lebt vom Kompromiss

Es passiert allerdings immer wieder, dass wichtige Schritte oft völlig der politischen Demagogie anheim fallen. Das Nachgeben und der Kompromiss sind aber politische Kategorien, die heute im Interesse einer gemeinsamen europäischen Sache und im Interesse der Durchsetzung übergeordneter Ziele notwendig sind. Europa kann nicht ohne Kompromisse und Nachgeben leben. Viele wollen das allerdings einfach nicht akzeptieren.

Am nächsten Tag ging es vormittags ins Außenministerium zu einem Vertreter einer strategischen Planungsabteilung. Das dortige Gespräch war sehr interessant und mündete in einen regelrechten Dialog über die Zukunft Europas und die Stärkung der Europäischen Union. Ich merkte, wie bei vielen anderen, auch bei diesem Gesprächspartner eine gewisse Zurückhaltung. Eine Zurückhaltung, die zweifellos auch damit verbunden ist, dass Polen sich noch nicht wirklich damit anfreunden kann, sich voll dem europäischen Einigungsprozess anzuschließen, also anzuerkennen, dass es nicht nur um die Erweiterung, sondern auch um die Vertiefung Europas geht.

Unsicherheitsfaktor Russland

Mein Gegenüber merkte ausserdem an, dass Russland heute mehr Informationen von der EU-Kommission in Brüssel bekäme bzw. mehr Mitsprache bei den strategischen Überlegungen über das zukünftige Sicherheitssystem Europas hätte als das für die eigentlichen Kandidatenländer der Fall sei. Ich kann nicht überprüfen, ob das stimmt, aber es spiegelt doch eine gewisse Angst, die gerade auch in Polen herrscht: Die Angst, dass die Chance jener kleineren Länder, die ehemals zum sowjetischen Block gehört haben, jetzt eigenständig mit Selbstbewusstsein an der Europäischen Politik teilzunehmen, schwinden könnte, wenn die Europäische Union uns, und damit sind vor allem wieder die großen Länder gemeint, sich all zu stark an einem Bündnis mit Russland orientieren.
Man befürchtet, dass auf Grund der Sicherheitslage seit dem 11. September auch hier eine innereuropäische Koalition zwischen West und Ost herzustellen versucht wird. Und man befürchtet, dass man erneut das Objekt von Entscheidungen zwischen den ehemaligen Alliierten im Westen und in Russland wird. Diese Angst ist sicherlich nicht ganz von der Hand zu weisen.

Aus Expertensicht

Zum Thema Russland kamen wir in einem sehr ausführlichen Gespräch mit einem der führenden außenpolitischen Intellektuellen, Botschafter Januz Reiter, zurück. Ich habe Botschafter Reiter in Polen bereits einige Male getroffen. Vor wenigen Wochen sah ich ihn zuletzt in Wien, und so kamen wir gleich intensiv ins Gespräch. Januz Reiter war Botschafter Polens in Deutschland und hat wesentlich zu einem Brückenschlag zwischen Deutschland und Polen beigetragen. Für ihn ist die Beziehung zwischen der Europäischen Union und Russland ganz entscheidend. Aber auch er meinte, dass es wichtig sei, Polen, das seine negativen und positiven Erfahrungen mit Russland gemacht hat, eine spezifische Rolle zuzuerkennen. Ein Polen, das von einer verständlichen anti-russischen Haltung und Reaktion inzwischen dazu übergegangen ist, die Dinge rationeller und kühler zu sehen, aber das keine Illusionen über die Interessen einer Großmacht in Russland hat.

Partner, nicht Feinde

Und in der Tat: Es ist auch aus meiner Sicht wünschenswert, mit Polen und Russland eine Situation herzustellen, in der wir nicht Feinde, sondern Partner sind und gemeinsame Strukturen aufbauen. Russland ist allerdings eine große Macht. Und Russland hat sich noch nicht eindeutig für die Demokratie entschieden. Wir wissen nicht, welche Kräfte in Russland mittel- bis langfristig den Vorrang bekommen. Das soll uns zwar zu keiner ablehnenden Haltung bringen. Aber wir sollten bei unserem Annäherungsprozess doch eine gewisse Skepsis – oder vielleicht besser eine gewisse Vorsicht – über den Aufbau einer gemeinsamen politischen und wirtschaftlichen Struktur bewahren. Die Erfahrungen in Polen könnten jedenfalls dazu dienen, Dinge, die wir mit Russland im Detail abmachen wollen, auf ihre Tauglichkeit und Gültigkeit abzuklopfen.

Innenpolitisch höchst rechtslastig

Natürlich ging es bei den Gesprächen, die ich in Warschau geführt habe, auch um die innenpolitische Situation, die durch einen totalen Zerfall der „Solidarität“ gekennzeichnet ist. Es gibt in Polen zum Teil extrem rechtspopulistische Parteien, etwa die stark antieuropäische Liga für die polnische Familie, die mit dem erzkonservativen katholischen Sender „Radio Maria“ verbunden ist, sowie eine Bauernpartei, deren Vorsitzender Leppar ist.
Besagter Leppar ist sogar zum Vizepräsidenten des Parlaments gewählt worden. Er ist ein heftiger Demagoge und erinnert mit seinem Handeln ein bisschen an Jörg Haiders oft zwiespältiges Spiel zwischen Demagogie auf der einen Seite und durchaus souveränem und seriösem Auftreten auf der anderen Seite, wenn es darum geht, Unternehmer und andere Kreise von der Seriosität seiner Politik zu überzeugen.

Geringe Akzeptanz in der Bevölkerung

Das macht es der Regierung natürlich nicht leicht. Sie könnte zum einen froh sein, dass es keinen starken politischen Gegner im Feld gibt. Auf der anderen Seite aber hat sie keinen Ansprechpartner, der ihr wirklich beim großen Projekt der Europäischen Einigung helfen kann. Und vor allem helfen kann, den Beitritt Polens zur EU in der Bevölkerung so akzeptabel wie möglich zu machen.
Die Polen haben sich ja bereits festgelegt: Sie werden ein Referendum haben. Das ist gesetzlich vorgeschrieben. Andererseits hat es ein klares politisches Bekenntnis gegeben. Ausserdem überlegt man derzeit, die 50%-Klausel, die es jedenfalls zu erreichen gilt, um der Volksabstimmung auch Gültigkeit zuzuerkennen, zu ändern. Man nimmt an, dass es doch zu einer größeren Enthaltung kommen könnte und schlussfolgert daraus, dass es schliesslich zu keiner positiven Entscheidung für den EU-Beitritt kommen könnte.

Ernsthafter Dialog

Im Anschluss besuchten wir das EU-Staatssekretariat, um ebenfalls viele Fragen über konkrete Reformen sowie des Zeitablaufes zwischen Erweiterung und Vertiefung zu besprechen. Es war jedenfalls interessant, dass schon an diesem ersten Tag eine Veränderung gegenüber früheren Begegnungen bemerkbar war. Die etwas überhebliche Haltung des von mir geschätzten früheren Verhandlungsleiters Kulakowski lautete zumeist: „Was kümmert ihr euch umso viele Details und um die Frage der Erfüllung des Aquis communitaire? Die Erweiterung ist doch im Wesentlichen eine politische Frage!“ Dass diese Argumentationslinie durch eine viel realistischere und konstruktivere Haltung der polnischen Gesprächspartner abgelöst wurde und jedenfalls zu einem ernsthafteren Dialog geführt hat, ist positiv.

Am nächsten Tag fand ein Gespräch mit dem Vorsitzenden des Europapolitischen Ausschusses, dem ehemaligen Premierminister und Parlamentspräsidenten Oleksi, statt, der eine – auch im wahrsten Sinne des Wortes – gewichtige Figur der polnischen Linken darstellt. Es war nicht ganz klar, wer Außenminister wird. Oleksi war sicher einer der aussichtsreichsten Kandidaten. Auf Grund von Beschuldigungen über frühere Spitzeltätigkeiten, die allerdings bisher nicht bewiesen werden konnten, hat Ministerpräsident Leszek Miller es aber vorgezogen, den ehemaligen Premierminister Wlodzimierz Cimoszewicz zum Außenminister zu machen. Dieser aber hat das Problem, dass er das, was notwendigerweise an Kompromissen anzubieten war, nicht rechtzeitig in der Bevölkerung vermitteln konnte.

Selbsteinsicht

Oleksi war in unserem Gespräch ausnehmend freundlich und entgegenkommend. Auch bei ihm musste keine Überzeugungsarbeit geleistet werden, dass Polen möglichst rasch in die Europäische Union eintreten muss. Vielmehr entwickelte sich ein sehr intensives, informatives Gespräch, bei dem ich aus Sicht eines sozialdemokratischen Abgeordneten versucht habe darzustellen, wie wir den Erweiterungsprozess sehen und mit ihm auch eine notwendige Stärkung der Europäischen Union verbinden. Auch dieses Gespräch hat mir gezeigt, dass die polnische Regierung dazu übergegangen ist, den Erweiterungsprozess auch in den Details ernst zu nehmen.

Solche Punkte, vor allem bezüglich der Umsetzung der Gesetze, haben wir von ein, zwei Jahren in den Gesprächen mit den polnischen Vertretern, aber auch mit anderen Teilnehmern immer wieder angesprochen, wurden aber nie wirklich gehört. Jetzt werden wir gehört, und jetzt haben es die polnischen Vertreter selbst ausgesprochen. Das entspricht auch dem, was Kommissar Verheugen inzwischen im Zusammenhang mit den Erweiterungsverhandlungen und dem Parlament mitgeteilt hat: Es kommt jetzt darauf an, die Umsetzungskapazität der Erweiterungskandidaten zu stärken. Denn mangels erfolgreicher Umsetzung hat noch niemand wirklich eine Fahrkarte nach Brüssel. Und das ist die Aufgabe vor allem im Jahr 2002.

Kann es sich ausgehen?

Ob sich das alles im Jahr 2002 ausgeht, ist natürlich eine Frage. Können in diesem Jahr so viele Schritte gesetzt werden, dass auch in der Zeit danach bis zu den tatsächlichen Beitritten 2004 dieser Erweiterungsprozess mit Fug und Recht abgeschlossen werden kann? Ich mir dies beim besten Willen nicht vorstellen.
Diese Einschätzung habe ich auch nach meiner Rückkehr mit österreichischen Vertretern der Medien in Brüssel wiedergegeben und gemeint, man solle vielleicht noch ein halbes Jahr bis ein Jahr draufschlagen, um den Erweiterungsprozess auch wirklich vollziehen zu können. Ich bin damit auf Widerspruch gestoßen. Vielleicht hatten manche den Eindruck, ich will mich vom Erweiterungsprozess verabschieden oder erachte diesen nicht mehr als so wichtig.

In der ersten Runde dabei?

Einige hat es auch gestört, dass ich gemeint habe, Polen sollte jedenfalls in der ersten Runde dabei sein. Jedenfalls dann, wenn Polen eine kleine Verzögerung für die anderen Länder oder maximal ein Jahr Verzögerung mit sich bringt. Aus meiner Sicht macht der so genannte Big Bang nur Sinn mit dem größten Land Polen. Und es wäre für Polen ein enormer Rückschlag, würde es nicht Schritt halten können.
Ich habe aber auch ganz unmissverständlich betont, dass Polen keine Freikarte hat. Wir sollten Polen trotzdem die Chance geben, das, was das Land unter der alten Regierung verloren hat, aufholen zu können. Wenn Polen das gelingt, dann sollten wir es in die erste Runde hineinnehmen. Wenn nicht, dann geht es eben nicht. Was ich übrigens absurd finde, ist die Idee des französischen Außenministers Védrine, auch gleich Bulgarien und Rumänien als EU-Mitglieder aufzunehmen.
Es wäre absurd, wenn diese beiden Länder nicht wirklich fähig sind, sie in der ersten Runde zu haben. Es sei denn, man würde den Prozess um etliche Jahre verschieben. Diese Aussage kann entweder nur bedeuten, dass Védrin seinen guten Willen gegenüber Bulgarien und Rumänien ausdrücken möchte. Das hat Chirac ja schon gegenüber Polen getan und es bereits für das Jahr 2000 als Mitglied vorgesehen. Oder aber man spekuliert wirklich damit, den Erweiterungsprozess hinauszuschieben, um zunächst die Vertiefung der Europäischen Union vorzunehmen und dann vielleicht all jene Kandidaten zu akzeptieren, mit denen man verhandelt.

Weg durch die Hintertür ist unzulässig

Nun, wie dem auch sei. Natürlich sind die Vertiefung der Europäischen Union, die Stärkung der Institutionen und die Entscheidungsfähigkeit wichtig. Und ich hätte mir gewünscht, man hätte in Nizza schon einiges erledigt, um die Union wirklich erweiterungsfähig zu machen. Jetzt allerdings über die Hintertür zum Ausdruck zu bringen, dass man das, was man nicht fähig war zu tun, mit einer aufgeschobenen Erweiterung umzusetzen, scheint mir extrem problematisch. Wir würden vielen dieser Länder ein negatives Signal geben. Und wir würden eigentlich sagen: Weil wir unfähig waren, das zu tun, müssen diese Länder auf den Erweiterungsprozess warten.

Hoffnung Konvent

Viel wichtig wäre es stattdessen, den Konvent so gut und intensiv zu planen und so rasch durchzuführen, dass noch vor der eigentlichen Erweiterung klar ist, in welche Richtung man gehen wird und auch die Erweiterungsländer für diesen neuen Weg der Stärkung der Europäischen Union zu verpflichten. Die Ratifizierung der Verträge muss eng mit einem Bekenntnis aller Mitgliedsländer, aber auch derer, die in der ersten Runde beitreten sollen, zu einer Stärkung und Intensivierung der Europäischen Union verbunden sein.
Das bedingt auch, dass wir viele Gespräche mit den betroffenen Ländern führen, um die politischen Vertreter und – so weit wir darauf Zugang haben – die Öffentlichkeit, die Medien, überzeugen, dass die Erweiterung alleine nicht genügt, um Europa als globalen Faktor zu verankern. Auch die Entscheidungsfähigkeit der Europäischen Union muss entsprechend gegeben sein. Und das ist genau jene Aufgabe, die wir im so genannten Post-Nizza-Prozess im Rahmen des Konvents und anschliessend in der Regierungskonferenz erledigen müssen. 
Warschau, 28.11.2001