Aus der Geschichte lernen

Es ist kein Ruhmesblatt der jüngeren polnischen Geschichte, dass heute nur ca. 300 polnische Juden in Krakau leben. 
Als ich vor meinem dritten Besuch in Krakau in einem renommierten Berliner Hotel an der Rezeption bat, mir die Zugverbindungen nach Krakau herauszusuchen, schaute mich die Rezeptionistin hilflos an und fragte mich, wie man Krakau schreibe. Den ÖsterreicherInnen ist die Stadt sicher besser bekannt. Trotzdem dürften auch nicht allzu Viele von ihnen Krakau besucht haben, trotz der vielen Baudenkmäler und Perioden gemeinsamer Geschichte.

Krakau, die Hauptstadt „Kleinpolens“

Krakau, heute „nur“ mehr die Hauptstadt von Malapolska, also Kleinpolen, ist die historische Hauptstadt Polens. Sie wurde es 1320, nachdem sie zuvor schon als wichtiger Handelsplatz und Bischofssitz bekannt geworden war. Seit 1364 hat hier die zweitälteste Universität Mitteleuropas ihren Sitz, die so berühmte Wissenschafter wie Nikolaus Kopernikus beherbergte. Die Realunion mit Litauen (1569) wirkte sich für die nun am Rand des neuen Reiches gelegene Stadt nachteilig aus. 1609 wurde Warschau zur neuen Hauptstadt erkoren und damit Krakau in eine Regionalhauptstadt zurückversetzt.
Polen wurde bekanntlich immer wieder durch Teilungen zugunsten seiner grossen Nachbarn zerstört, und mit der dritten Teilung fiel Kleinpolen an Österreich (1795) und gehörte schliesslich nach 1846 zur Provinz Gallizien. Nostalgiker sehen diese Zeit noch heute, trotz Teilung und Niederschlagung der Krakauer Revolution, als glückliche Periode an. Angesichts der nachfolgenden Naziokkupation und der Unterordnung unter das sowjetische Imperium ist diese Haltung auch verständlich.
Aber Europa auszubauen, heißt nicht, von alten Zeiten zu schwärmen, sondern neue Strukturen zu schaffen. Diese können durchaus an alten Verbindungen anknüpfen. Sie bilden aber nicht den Ausgangspunkt und schon gar nicht den Endpunkt der Beziehungen zwischen Österreich und Polen im neuen Europa.
Zum ersten Mal war ich – privat – etwa 1986/87, so genau weiß ich das nicht mehr, in Krakau. Die Stadt bot sich mir düster und gedrückt an. Mit fiel damals auf, dass die Kirchen überaus gut besucht waren, auch von jungen Menschen. Dies war unter anderem Ausdruck einer politischen Haltung gegen die kommunistische Herrschaft. Heute stellt sich Krakau ungleich freundlicher und lebendiger dar.
Meine beiden jüngsten offiziellen Besuche auf Einladung des engagierten österreichischen Generalkonsuls Peter Brezovszky führten mich auf die Jagellonien Universität und die Technische Universität. Im ersten Fall ging es um eine Diskussion über die europäische Identität, im zweiten Fall um ein Grundsatzreferat zur Entwicklung der Städte in Ost- und Zentraleuropa.

Großes intellektuelles Potential

Die Kontakte mit den Wissenschaftern der Universität waren und sind für mich sehr fruchtbar. Sie bestätigen meine Meinung, dass Polen ein ungeheuer großes intellektuelles Potential besitzt. Manchmal ist vielleicht die jahrelange Unterbrechung des ständigen Dialoges mit dem Westen bemerkbar. Zu meinem grossen Erstaunen konnten aber viele Wissenschafter und Künstler auch während der kommunistischen Zeit längere Auslandsaufenthalte geniessen – freiwillig und nicht nur aufgrund erzwungenen Exils oder vom Geheimdienst angeordnet.
Anlässlich meines Referates an der Technischen Universität lernte ich jenen Architekturprofessor kennen, der die Hauptverantwortung für die Errichtung von Nowa Huta trug. Nowa Huta ist die moderne und sozialistische Konkurrenzstadt zu Krakau, Anfang der Fünfzigerjahre zusammen mit einem Stahlwerk nur sechs Kilometer von Krakau entfernt gebaut. Sie wurde als Gegenmodell zum bürgerlichen, katholischen Krakau errichtet und sollte den Arbeitern, vor allem jenen aus dem nahe gelegenen Stahlwerk, ein Leben in Licht, Luft und Sonne ermöglichen.

Nowa Huta, kommunistisches Gegenmodell zu Krakau

Das Gespräch mit dem Chefarchitekten von damals – der inzwischen über Veränderungen und Ergänzungen nachdenkt – hatte meine Neugier geweckt, und so machte ich mich mit dem Chauffeur und einer Mitarbeiterin des Generalkonsulats auf den Weg nach Nowa Huta. Der nach den Originalplänen gebaute älteste Teil dieser Neustadt macht einen angenehmen, urbanen, aber dennoch grünen Eindruck. Das kann man von den späteren Ergänzungen, insbesondere den jüngsten Bauten, nicht sagen.
Es ist erschreckend, dass man Anfang der Fünfzigerjahre überlegter, sensibler und technisch fortschrittlicher gebaut hat als in der Zeit danach. Zweifellos gäbe es auch in den ursprünglichen Teilen der „Siedlung“ Einiges zu verbessern und vor allem zu ergänzen. Angesichts des Rückganges der Stahlproduktion und damit der Beschäftigung wäre zudem den sozialen Aspekten besonderes Augenmerk zu schenken – nicht nur in Nowa Huta, sondern in ganz Polen. Die Abhängigkeit der BewohnerInnen vom Stahlwerk, das seine Produktion drastisch reduzieren musste, wirkt sich hier allerdings besonders dramatisch aus.

Denkbar schlechter Ruf

Neben ganz realen Verbesserungen gilt es vor allem, den Ruf der Neustadt zu verbessern. Jene junge Polin, die mich begleitet hatte, war zuerst gar nicht davon angetan, mit mir hierher zu fahren. Wie sie mir berichtete, hatte man ihr während des Studiums in Krakau stets davon abgeraten, nach Nowa Huta zu kommen, da es sich um eine gefährliche Gegend handle. Zweifellos schwangen bei dieser Empfehlung auch anti-kommunistische Ressentiments mit. Die junge Frau war nun überrascht, dass Nowa Huta so gar nicht dem Schreckgespenst entsprach, das man ihr immer an die Wand gemalt hatte. Als sie einen Mann erblickte, der die Fenster seiner Wohnung putzte, war sie fast begeistert.
Nowa Huta konnte Krakau weder in seiner Kernstruktur noch in seiner inzwischen durch viele Ergänzungen gewachsenen Form etwas anhaben. Vielleicht war das Erfüllen des Wohnbedarfes hier entgegen dem Willen der kommunistischen Politiker sogar von Vorteil für die Erhaltung der Bausubstanz in Krakau selbst. Die kommunistische Mustersiedlung war im Übrigen Ausgangspunkt für die Aktivität der Solidarnosc im Krakauer Gebiet und trug so nicht zuletzt zum Ende des kommunistischen Regimes bei.
Krakau erlitt im Krieg keine materiellen bzw. baulichen Schäden. Was die Stadt viel mehr getroffen und verändert hat, war die Vertreibung und Vernichtung der Juden während der Naziherrschaft. Einzig Oskar Schindler, breiteren Kreisen durch Spielbergs Film „Schindlers Liste“ bekannt, konnte einige der über 70.000 Juden – ca. 25 Prozent der damaligen Einwohnerzahl – retten.

Kein Ruhmesblatt der Geschichte

Nach dem Krieg kehrten 3000 ehemalige Krakauer und weitere 3000 polnische Juden in die Stadt zurück. Es ist kein Ruhmesblatt der jüngeren polnischen Geschichte, dass fast alle von ihnen Krakau wieder verließen und heute nur ca. 300 polnische Juden in Krakau leben. Allerdings versucht man, das interessante jüdische Stadtviertel Kazimierz nicht nur durch verschiedene Maßnahmen zu beleben, sondern ihm auch wieder einen jüdischen Charakter zu verleihen. In einem renovierten alten Bethaus arbeiten dort auch österreichische Gedenkdiener – trotz der drastischen Kürzung ihres „Einkommens“ durch die amtierende Bundesregierung. Ich bewundere deren Engagement und den Optimismus, den sie, mehr als viele offizielle Vertreter Österreichs, ausstrahlen.

Nazi-Pamphlete im jüdischen Antiquariat

Im Kellergeschoss des jüdischen Zentrums befindet sich ein Antiquariat. Ich war erstaunt und verwundert, dort auch Bücher und Zeitschriften aus der Nazizeit zu finden. Eine Zeitschrift war dem 400. Todestag von Nikolaus Kopernikus am 24.5.1943 gewidmet.
Die „Vierteljahresschrift des Institutes für Deutsche Ostarbeit Krakau“ stand unter dem Ehrenschutz des Generalgouverneurs Dr. Frank, jenem berüchtigten Vertreter Hitlers, der in einem Nazianbau an das Schloss am Wavel residierte und von dort aus seine Terrorherrschaft über Polen ausübte. In seinem Geleitwort, verfasst in der Burg von Krakau, würdigte er Kopernikus als „Deutschen schlesischen Stammes“, als „Sohn deutschen Blutes“, als Wegbereiter deutscher geistiger Schöpfung“, etc. Und ein gewisser Dr. Erwin Hoff fasst den Kern seiner Ausführungen in diesem Sinn zusammen: „Krakau also, wo Kopernikus studierte, war in ihrer Kontur eine deutsche Stadt, an der Universität waren zu über 50 Prozent – allermindestens – deutsche Hörer und deutsche Lehrer, Kopernikus lebte später im deutschen Krakau, war geboren von deutschen Eltern, im deutschen Thorn, hat nie ein einziges Wort polnisch geschrieben…“, etc.
Wann immer ich derartige Dinge lese und wo immer ich eine solche nationalistische Prioritätensetzung sehe, weiß ich, warum Europa so wichtig ist. Es soll nie wieder möglich werden, dass nicht die wissenschaftliche Forschung und deren Ergebnis wichtig sind, sondern die nationale, ethnische Herkunft. Diese Einstellung geht immer mit Unterdrückung und Krieg einher. Und das gilt es zu verhindern. Unsere Lehre aus der Geschichte muss sein, dass die Vernichtung von Menschenleben und die Vertreibung von Menschen aus ihrer Heimat im Europa der Zukunft keinen Platz haben. Wir können die Vergangenheit nicht mehr korrigieren und sollten auch Taten nicht miteinander aufrechnen. Allerdings sollten wir die Wurzeln und die Anfänge der tragischen Ereignisse nicht vergessen. Das Schicksal der Polen – der jüdischen und nichtjüdischen – muss uns eine Lehre sein. 
Krakau, 19.4.2002