Bei den Kommissaren

Die meisten EU-Kommissare sind PolitikerInnen, die ihre Aufgabe mit einem ungeheuren Engagement und hoher Sachkenntnis erfüllen und eigentlich unter ihrem Wert gehandelt werden. 
Alfred Gusenbauer, unser Parteivorsitzender, war dieser Tage zu Besuch in Brüssel. Auf seinem Besuchsprogramm standen eine Diskussion mit der Delegation unserer österreichischen SPÖ-Abgeordneten im Europäischen Parlament, eine breit angelegte Veranstaltung der SPÖ-Sektion Brüssel, und gemeinsam mit Caspar Einem, unserem Europasprecher im Nationalrat, begleitete ich Alfred Gusenbauer zu Gesprächen mit mehreren Kommissaren. Das eröffnete auch mir die Möglichkeit eines intensiveren Dialogs mit den einzelnen Kommissaren, als dies üblicherweise im Rahmen von Fraktions- oder Ausschusssitzungen gegeben ist.

Unter Wert gehandelt

Alle Kommissare, mit denen wir gesprochen haben – von Kinnock über Liikanen bis zur Kommissarin Schreyer und Günther Verheugen – sind PolitikerInnen, die ihre Aufgabe mit einem ungeheuren Engagement und hoher Sachkenntnis erfüllen und eigentlich unter ihrem Wert gehandelt werden. Vielleicht ist es Teil der Medienöffentlichkeit als solches, vielleicht auch ein gewisses Unvermögen, sich selbst in der Öffentlichkeit zu präsentieren: Die Vielfältigkeit, zum Teil auch das Sprühende an diesen Kommissaren wird in den Medien jedenfalls zu wenig oder gar nicht transportiert.
Neil Kinnock, ein Mann aus Wales, voll Fröhlichkeit und Herzlichkeit, bringt diese Ausstrahlung vielleicht noch am ehesten zum Ausdruck, auch wenn er manchmal sehr verärgert sein kann. Seine sprühende Lebensfreude, wenngleich mit einem mir manchmal zu weit gehenden Pragmatismus verbunden, ist unbestritten etwas, das für dieses Europa viel mehr kennzeichnend sein sollte, als es derzeit der Fall ist.

Neil Kinnock – Mann der EU-Reform

Für Kinnock war Nizza nicht so schlecht, wie es gemacht wurde. Mehrere Kommissare haben ausserdem darauf hingewiesen, dass die Stimmung in der Kommission bezüglich Nizza heute besser und toleranter ist, als das unmittelbar nach dem Gipfel der Fall war.
Neil Kinnock ist seitens der Kommission für die Reform der Europäischen Union verantwortlich. Er meinte diesbezüglich, dass er keineswegs schon alles erreicht habe, aber viele Fortschritte erzielen konnte. Was ich bemerke, vor allem auf Ebene der MitarbeiterInnen der Kommission, ist ein Zu viel an Rotation, an Bewegung, an Kontrolle bzw. Überkontrolle. Die Tatsache, dass die Kommission und ihr Mitarbeiterstab, also die Verwaltung der EU, nicht organisch gewachsen ist, sondern sich aus verschiedenen Verwaltungen relativ rasch zusammengesetzt hat, und der Umstand, dass immer wieder neue Aufgaben und neue Länder mit neuen Verwaltungsstrukturen hinzukommen, erschweren die Organisation dieser Verwaltung natürlich ganz enorm.
Unterschiedliche Verwaltungen aus unterschiedlichen Länder vertreten selbstverständliche auch unterschiedliche Verwaltungskulturen und Werthaltungen, wie sie in die Verwaltung hineinreichen. Auch die Frage der Kontrolle, der Verhinderung möglicher Missbräuche wird in diesem Zusammenhang jeweils unterschiedlich bewertet.

Michaele Schreyer – Frau des Haushaltes

Im Gespräch mit EU-Kommissarin Michaele Schreyer ging es in erster Linie um die Frage der Finanzierung der EU, insbesondere um die Finanzierung der Erweiterung. Wir haben bei dieser Gelegenheit festgehalten, dass es aus unserer Sicht noch grössere Probleme geben wird. Es ist nicht damit getan, sich auf die bereits fixierte Obergrenze von 1,27% des europäischen Sozialproduktes zu berufen – das von der EU für 2001 vorgesehene Budget liegt ohnehin unter 1,1%.
Auch wenn wir die vorgesehene Grenze von 1,27% einhalten können, bedeutet das de facto trotzdem eine Steigerung der Ausgaben. Und es bedeutet de facto, dass vor allem die Nettozahler-Länder wie Deutschland und Österreich mehr Geld investieren müssen, um die Erweiterung zu finanzieren. Es wird umso weniger Geld sein, umso mehr jene Länder, die bereits jetzt – vor allem aus dem Kohäsions- und dem Strukturfonds – viele Finanzmittel erhalten, darauf verzichten. Die Finanzierung der EU-Erweiterung wird jedenfalls noch sehr schwierige Diskussionen nach sich ziehen, und es wird bestimmt nicht leicht, zu einer neuen Regelung zu kommen.

Erkki Liikanen – Wegbereiter der neuen Technologien

Mit Kommissar Erkki Liikanen besprachen wir, wie wir mehr Engagement, mehr Bewegung, mehr Mobilität und mehr Faszination in ein Europa einbringen können, das die Informationstechnologien stärker anwendet und dabei die Lücke zu den Vereinigten Staaten von Amerika ausfüllt.
Derzeit scheint die Situation zwar etwas gedämpft, da gerade in Amerika viele jener kleinen Firmen, die mit neuen Technologien operiert haben, vor dem Zusammenbruch stehen bzw. einen Niedrigststand ihrer Aktienkurse akzeptieren müssen. Hinter vielen dieser Unternehmen stand kaum etwas. Daran ändern auch die hohen Steigerungen der Aktienkurse in den Monaten und Jahren zuvor nichts, denn sie haben auf einer relativ schwachen Basis beruht. So ist es nun einmal an der Börse: Der reale Wert zählt zunächst weniger als der fiktive, virtuelle Wert solcher Firmen. Aber selbst im Aktiengeschäft wird ab einem bestimmten Zeitpunkt nachgefragt, was genau hinter dem Fiktiven steht. Und wenn dann die reale Basis sehr schwach ist – angefangen vom Know-how bis hin zum Kapital – dann sind auch die hohen Aktienkurse nicht mehr durchzuhalten und es kann zu tiefen Abstürzen kommen. Genau das ist den vergangenen Wochen geschehen.

Mehr Markt, weniger Regulierung, aber sozial abgesichert

Trotzdem sind die neuen Informationstechnologien eine grosse Chance, neue Jobs zu schaffen, und sie eröffnen die Möglichkeit, sich selbständig zu machen – gerade auch für Menschen, die nicht über die höchste Ausbildung verfügen, aber eine gediegene technische und wirtschaftliche Ausbildung erhalten haben. Dabei ist gerade die Aus- und Weiterbildung ein wichtiger Faktor, der in vielen Ländern – nicht zuletzt auch in Österreich – zunehmend als ein effizientes Mittel für die Schaffung zukünftiger Arbeitsplätze betont wird.
Mehr Markt, mehr Initiative, weniger Regulierung, aber gleichzeitig eine starke Betonung der sozialen Komponente und der sozialen Sicherheit – so definiert sich das von Liikanen gestellte europäische Ziel. Ein Ziel, mit dem wir durchaus übereinstimmen, das allerdings in der Realität nicht so einfach umzusetzen ist, weil es letztendlich auch um teilweise widersprüchliche Zielsetzungen geht.

Günter Verheugen – der Erweiterungsbereiter

Mit Kommissar Günter Verheugen führten wir ein ausführliches Gespräch über die Erweiterung. Im Mittelpunkt standen dabei die einzelnen Schritte des Erweiterungsprozesses, aber auch die unverkennbaren Schwierigkeiten. Diskutiert wurden insbesondere auch die aktuellen Fragen in Zusammenhang mit den so genannten Benes-Dekreten und Temelin.
Günter Verheugen ist ein Politiker, der sich in vielen für Österreich wichtigen Fragen engagiert. Er ist einer, der sich ganz unmissverständlich für Übergangsregelungen bei der Freizügigkeit auf dem Arbeitsmarkt ausspricht. Er gesteht ein, dass es zwar keinen ausdrücklichen aquis communitaire für die Normen bei Atomkraftwerken gibt, aber für ihn ist klar, dass es bei Temelin Umweltverträglichkeitsprüfungen geben muss. Und Verheugen meint zwar, dass die Benes-Dekrete keine direkte europäische Ebene haben, aber er wird sich trotzdem zum einen bemühen, die tschechischen Vertreter zu einer politischen Geste zu bewegen, und zum anderen zu verdeutlichen, dass die heutige Rechtslage – was etwa die Rückgabe von Eigentum betrifft – mit den Rechtsgrundsätzen der Europäischen Union völlig konform gehen muss.

Abbau der Spannungen zwischen Österreich und Tschechien

Ich weiss, dass einige Menschen mit einer sehr extremen Haltung zur Atomfrage bzw. zu den Benes-Dekreten mit dieser Einstellung von Günter Verheugen nicht zufrieden sind. Aber die Tatsache, dass er der deutsche Kommissar ist und sich mit diesen Fragen auch deshalb so intensiv auseinander setzt, um die Spannungen zwischen Österreich und Tschechien zu verringern, sollte nicht übersehen werden. Für mich ist ausserdem ganz entscheidend, dass wir selbst in Österreich zu einem realistischen Standpunkt kommen können, ohne unsere Grundsätze zu verraten und aufzugeben. Ja: Wir brauchen ein höchstes Ausmass an Sicherheit bei Temelin. Aber wir können keinem anderen Land eigenmächtig verbieten, dass es Atomkraft verwendet. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen – ob wir wollen oder nicht.
Ja: Die Benes-Dekrete haben in der Vergangenheit zu Entwicklungen geführt, die auch durch das vorhergegangene unaussprechliche Ausmass an Ungerechtigkeit, an Verbrechertum seitens des Hitler-Regimes, nicht zu rechtfertigen sind. Aber nicht alles aus der Vergangenheit sollte heute wieder aufgerollt werden. Eine politische Erklärung der tschechischen Regierung, die auch zur Kenntnis nimmt, dass neues Unrecht geschaffen wurde, ist sicher notwendig. Aber wir können heute keine rechtliche Diskriminierung anprangern – weder was die einzelnen StaatsbürgerInnen noch was die Rückgabe von Grund und Boden etc. betrifft.

Mit Übergangsfrsiten zum gemeinsamen Arbeitsmarkt

Bei der Frage der Freizügigkeit geht es darum, eine Übergangsfrist zu schaffen, die mit einem hohen Ausmass an Flexibilität verbunden ist, insbesondere dann, wenn klar ist, dass es auch nach Ablauf der Übergangsfrist zu gravierenden Störungen auf dem Arbeitsmarkt kommen würde. Vor Einsetzung dieser Frist, also vor dem jeweiligen Beitritt, aber natürlich auch während der Frist, muss es ein starkes Engagement zur Stärkung der Grenzregionen geben. Fristen sind ja nicht dazu da, um sie ungenützt verstreichen zu lassen und auf eine automatische Lösung der Probleme zu hoffen. Sie müssen von Österreich vielmehr so genützt werden, dass nach Ablauf der jeweiligen Frist die Problematik – beispielsweise die Zuwanderung bzw. das Einpendeln oder die Herstellung eines gemeinsamen Arbeitsmarktes ohne Grenzen – eben kein Problem mehr darstellt. 
Wien, 12.1.2001