Über den Schatten springen

Nach wie vor besteht auf slawisch-mazedonischer Seite ein Widerspruch gegen die Verfassungsformulierung, die das Land aller Mazedonier darstellt.  
Es ist ein herbstlicher Morgen, an diesem Samstag in Skopje, der Hauptstadt Mazedoniens. Wir sind gestern entgegen unseren ursprünglichen Plänen mit der Austrian Airlines nach Skopje gekommen.

Aus für Swiss-Air

Eigentlich sollten wir im Anschluss an unseren Strassburg-Aufenthalt mit der Swiss Air anreisen. Aber es ist etwas Unfassbares passiert: die Swiss Air musste ganz plötzlich alle Flüge einstellen, weil sie das Kerosin für die Maschinen nicht mehr bezahlen konnte. Die renommierte Fluglinie ist am Ende und dürfte auch Sabena und andere Fluggesellschaften mitreißen. Genau betrachtet ist es ein Skandal, wie einige Wenige eine blühende, starke Gesellschaft, die ein Symbol für die Schweiz war, dermassen in den Abgrund geführt haben.
Wir sind nach Skopje gekommen, um die Abstimmung im Parlament und die Umsetzung des Abkommens von Ohrid, das im Sommer verabschiedet worden ist, zu überprüfen. Unterschrieben wurde dieses Abkommen von Ministerpräsident Boris Trajkovski, Ljubco Georgievski, dem Führer der serbokroatischen Partei, den Führern der albanischen Parteien Imeri und Xaferi sowie von Beauftragten der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika, die als Vermittler tätig waren und es zum Teil noch sind.

Evaluierung von Ohrid

Das Ohrider Abkommen befriedigt weitgehend die Wünsche der Albaner und ist als solches durchaus gerechtfertigt und vernünftig. Ich habe mich allerdings immer wieder gegen die Methoden, mit denen die Albaner ihre Forderungen umgesetzt haben bzw. mit denen auch die albanischen Parteien selbst durch Terroraktivitäten unter Druck gesetzt wurden, gewandt.
Die Diskussion und die Auseinandersetzung darüber ist aber keineswegs vorbei. Denn die europäischen Länder und insbesondere die Amerikaner haben gegenüber dem Terrorismus, der aus dem Kosovo nach Mazedonien übergesprungen ist, zum Teil Verständnis gefunden bzw. tolerieren diesen Terrorismus. Manche meinen, die Amerikaner haben ihn, jedenfalls am Anfang, sogar unterstützt.

Zu nachgiebig

Klar ist, dass das Verhalten der so genannten internationalen Gemeinschaft gegenüber dieser Art Terrorismus viel zu nachgiebig gewesen ist. Genau das hat sich psychologisch sehr stark auf die slawisch-mazedonische Seite ausgewirkt hat. Wenige Wochen nach den Attentaten in New York und Washington sieht man sich in der Ablehnung des albanischen Terrorismus bestätigt.
Noch nie zuvor war der Nationalismus auf slawisch-mazedonischer Seite so deutlich zu spüren – insbesondere beim Präsidenten des Parlaments, der nichts unterlässt, um die Abstimmung über Ohrid hinauszuzögern, aber auch bei Ministerpräsident Trajkovski und einigen anderen Gesprächspartnern.

Terrorismus bleibt Terrorismus

Meine Kolleginnen und Kollegen haben, genau wie ich selbst, durchaus Verständnis für diese Kritik am Westen. Aber ich habe den Terrorismus immer als Terrorismus bezeichnet und keinen Zweifel darüber gelassen, dass es keinen unterschiedlichen Terrorismus gibt, sondern nur verschiedene Ausformungen: die massive terroristische Aktion, wie sie in New York und Washington an den Tag getreten ist, den Terrorismus im kleineren – ob im Baskenland, bei der IRA oder im Fall Albaniens – und den Staatsterrorismus, wie er von Belgrad aus unter Milosevic ausgeübt wurde und wie wir ihn in verschiedenen anderen Staaten im Nahen Osten, auf israelischer und arabischer Seite, kennen.
Terrorismus ist ein sehr vielfältiger Begriff. Aus meiner Sicht muss aber ganz klar sein, dass Terrorismus, der sich gegen die Demokratie und die demokratischen Methoden wendet, zu verurteilen ist – er reißt unschuldige Menschen ganz bewusst mit in den Tod, um politisch vielleicht durchaus verständliche Ziele durchzusetzen. Sowohl vom Inhalt als auch von der Form her sollten wir deshalb versuchen, diesem Terrorismus in allen Fällen eine unmissverständliche Absage zu erteilen.

Schwarze Liste

Und so haben wir auch vergangene Woche im Europäischen Parlament die diesbezügliche Gesetzgebung in einem Konsulationsprozess mitgetragen. Es ging um das Anführen von Bankkonten terroristischer Vereinigungen. Nicht zufrieden waren mit der Tatsache, dass dabei ausschließlich islamische und islamistische Organisationen in der Liste jener Organisationen angeführt waren, denen terroristische Zielsetzungen untergeschoben oder zumindestens zuerkannt wurden.

Ich freue mich zwar, dass die GIA, die terroristischen Organisationen in Algerien, endlich in dieser Liste aufscheinen, aber es gibt aus meiner Sicht und nach Meinung des Europäischen Parlaments insgesamt auch einige europäische Organisationen, die hier ebenfalls geführt werden sollten. Es wird sich zeigen, wie der Rat und die Kommission mit dieser Liste verfahren werden.

Willensbekundungen

Nun, auch hier in Mazedonien geht es darum, nach wie vor zum Ausdruck zu bringen, dass wir Gewalt, Gewaltbereitschaft und Terrorismus keinesfalls akzeptieren. Und Georgievski selbst hat zumindest uns gegenüber versichert, dass, auch wenn es zu keiner Umsetzung der Maßnahmen im Parlament kommen sollte, er Gewalt ganz entschieden ablehnen würde. Regierungsmitglieder, die sich anders verhielten, müssten aus der Regierung ausscheiden und die Regierung würde damit letztlich in sich zusammenbrechen.
Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass eine Regierung ohne die albanischen Kräfte in Mazedonien bestehen bleibt. Das würde weder im Land noch international zu Ruhe und Stabilität führen.
Auch bei den Gesprächen mit den diplomatischen Vertretern haben wir gemerkt, dass Unzufriedenheit und Unsicherheit hinsichtlich der Politik, die der Westen an den Tag gelegt hat, herrschen. Das betrifft etwa die Frage der Rückführung der Flüchtlinge, die erst nach der Beschlussfassung im Parlament, nach der Amnestie etc. erfolgen soll und bei der ebenfalls die internationalen Kräfte einzusetzen sind. Es gab dabei viel Kritik an der langen Verzögerung der Rückführung der Flüchtlinge, aber auch darüber, dass nicht vor Ort mit den Flüchtlingen gesprochen worden ist, sondern einige wenige Personen, insbesondere die beiden Beauftragten der Europäischen Union und Amerikas, mit einem Teil der internationalen Organisationen Vereinbarungen trifft.

Zu wenig Sensibilität, Transparenz und Dialog

Generell ist auch in dieser Frage unser Eindruck, dass die internationalen Beauftragten oft ohne Sensibilität und Dialog sowohl mit den politischen Vertretern, als auch mit den arabischen Vertretern agieren – und das scheint mir keineswegs optimal zu sein.
Wir haben in unseren Gesprächen ausserdem immer wieder klar gemacht, wie wichtig eine Aufklärung über 10 bis 14 verschwundene Personen wäre. Sind sie noch am Leben, sollte von der slawisch-mazedonischen Seite keine neue Vorbedingung gestellt werden. Der Friedensprozess sollte stattdessen weiter geführt werden und man sollte vermeiden, jetzt erneut Änderungen, zumal einseitige, herbeizuführen.
Nach wie vor besteht auf slawisch-mazedonischer Seite ein Widerspruch gegen die Verfassungsformulierung, die das Land aller Mazedonier darstellt. Man will den historischen Kampf der Slawisch-Mazedonier um einen eigenen Staat in den Vordergrund bringen.
Eine von mir sehr geschätzte junge sozialdemokratische Abgeordnete hat eine durchaus sinnvolle Formulierung vorgeschlagen. Sie hat betont, dass die Mazedonier für einen eignen Staat gekämpft haben, dass aber jetzt darüber hinaus nicht nur die slawisch-mazedonischen Albaner, sondern auch viele andere Minderheiten diesen gemeinsamen Staat bilden.

Ohrid umsetzen

Ich glaube insgesamt, dass man über diese Frage in Ruhe mit den Albanern reden muss, um zu einer Vereinbarung zu gelangen. Aber es scheint doch auf der anderen Seite wichtig zu sein, die richtigen Entscheidungen des Prozesses von Ohrid umzusetzen.
Ich selbst habe dem Ministerpräsidenten ziemlich deutlich und klar gesagt, dass das, was in Ohrid vereinbart wurde, zwar sicher unter Druck zustande gekommen ist, aber mittelfristig ohnedies kommen hätte müssen. Es muss allen Beteiligten klar sein, dass an einer höheren und gleichmäßigeren Vertretung in der albanischen Bevölkerung mit den Slawisch-Mazedoniern in diesem Lande kein Weg vorbeiführt. Deshalb sollte man jetzt die Gelegenheit ergreifen und mutig genug sein, genau das herbeizuführen. Man sollte über seinen eigenen Schatten springen und den Weg in die Zukunft zeigen. 
Skopje, 6.10.2001