Bildung, die Zukunft Europas

Europa kann seine Leistungsfähigkeit nur dann aufrecht erhalten, wenn es wesentlich mehr in Bildung und Forschung investiert als bisher.
Bei einer Versammlung von LehrerInnen aus dem Pflichtschulbereich der AHS und BHS wurde ich gebeten, gestern abend zum Thema „Die Europäische Union und Bildung“ zu sprechen.

Andere Zeiten

Eigentlich könnte man eine solche Analyse relativ kurz halten, da die Europäische Union per definitionem mit Bildung nichts zu tun hat. Das ist nicht zynisch gemeint, sondern entspricht der Kompetenztlage der EU. Und dennoch hat sich im Laufe der letzten Zeit immer mehr herauskristallisiert, dass es ohne Vorgaben für Bildung, Wissenschaft und Forschung kaum möglich sein wird, die Aufagben der Europäischen Union zu erfüllen. Das hängt zweifellos mit den geänderten wirtschaftlichen Verhältnissen in Europa, aber auch den globalen Verhältnissen zusammen.
Als die Europäische Union bzw. die Vorgängerorganisationen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, vor allem die Gemeinschaft für Kohle und Stahl, gegründet worden sind, war Europa durch das Vorherrschen der Schwerindustrie gekennzeichnet. Der einzige wirkliche Konkurrent waren damals die USA. Die späteren Mitbewerber des Ostblocks sind nie in den Rang wirklicher Konkurrenten gekommen. Und die Dritte Welt war durch unzählige Kolonien gekennzeichnet. Die Länder der Dritten Welt waren in erster Linie Zulieferer für Rohprodukte. Allein jene Länder, die Erdöl und später auch Erdgas produziert haben, hatten schon immer eine besondere Stellung.

Dramatische Wandlungen

Diese Ausgangslage hat sich in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch gewandelt. Die Leicht- und Konsumgüterindustrie, in der Folge insbesondere die Dienstleistungen, bekamen Vorrang vor der Schwerindustrie. Und vor allem Forschung und Entwicklung wurden zentrale Elemente der Wirtschaftsentwicklung.
Die USA haben sich wieterhin gut entwickelt. Zwar gab es ein Auf und Ab, aber gerade in den letzten Jahren hat sich ein starkes Wachstum und eine große Integrationsfähigkeit für viele ZuwanderInnen abgezeichnet. Die ehemaligen Länder des Ostblocks weisen zwar noch immer eine schwache Wirtschaftskraft auf, haben aber doch enorme Reformprozesse durchgemacht. Und im Bereich der Dritten Welt gibt es schließlich einige Länder, die eine starke Industrialisierung oder besser Modernisierung durchgemacht haben bzw. gerade durchmachen – beispielsweise China, Indien, aber auch Brasilien und zuletzt auch Südafrika.

Lissabon-Ziel verfehlt

Das verdeutlicht, dass sich nicht nur die Wirtschaftsstruktur in Europa stark verändert hat, sondern auch die globalen Verhältnisse. Die Wirtschaft funktioniert nicht mehr über den Austausch von hoch entwickelten technischen Produkten aus Europa und den USA gegen Rohstoffe aus der Dritten Welt. Vielmehr sind alle Länder, vor allem auch China und Indien, dazu übergegangen, Wissenschaft und Forschung zu entwickeln, Universitäten aufzubauen und über ein hochqaulifiziertes Arbeitskräftepotenzial verfügen.
Als Antwort auf diese Entwicklung hat die Europäische Union den Lissabon-Prozess in Gang gesetzt. Man hat sich damit zum Ziel gesetzt, im Jahr 2010 mit einer wissensorientierten Basis der wettbewerbsfähigste Kontinent zu sein. Wenn man allerdings die aktuelle Situation betrachtet, so könnte 2010 jenes Jahr sein, in dem China genau den gleichen Anteil für Wissenschaft und Forschung ausgibt wie Europa zu diesem Zeitpunkt.

Wir müssen uns ins Zeig legen

Es handelt sich also eigentlich nicht um einen Aufholprozess, den Europa gegenüber den USA und anderen Ländern vollzieht. Vielmehr ist es so, dass die USA weiterhin vorne wegziehen und Länder und Regionen wie beispielsweise China und in späterer Folge auch Indien Europa ein- und vielleicht sogar überholen – zumindest in bestimmten Schlüsselsektoren der Wirtschaft und der Wissenschaft. Das ist keine angenehme Botschaft, aber es beschreibt den heutigen Stand der Perspektiven, wenn Europa – und damit ist nicht nur „Brüssel“, sondern vor allem auch die Mitgliedsländer gemeint – sich nicht entsprechend ins Zeug legt.
Die Mitgliedsländer vollbringen unterschiedliche Leistungen. Die nordischen Länder etwa – Finnland, Schweden, zum Teil auch Dänemark – zeigen herrvorragende Leistungen. Österreich hinkt da, wie einige Länder, schon hinterher. Wir müssen unsere Universitäten, unsere Forschungsstätten und in der Folge auch unsere Schulen bis hin zu den Kindergärten darauf vorbereiten, dass wir nur dann wettbewerbsfähig bleiben, wenn wir gut ausgebildete Arbeitskräfte entwickeln. Arbeitskräfte, die auch leistungsfähig und -bereit sind, weil sie leistungsmotiviert sind, weil sie Freude und Spass an der Leistung haben und Neugierde entwickeln, um Neues zu erforschen.

Wir subventionieren die USA

Dabei geht es nicht um die Ausbildung und das Gehalt, sondern vor allem auch um die Möglichkeiten, entsprechend aktiv zu sein. Es zeigt sich, dass wir die de facto die USA von Europa aus – und das gilt auch für Österreich – subventionieren, indem wir ihnen gut ausgebildete ForscherInnen „schicken“. Viele der jünegren ForscherInnen bekommen bei uns zu wenige Chancen, sich selbständig zu entwickeln und sich an unseren Universitäten und Forschungsstätten auch zu profilieren. In den USA ist genau das um ein Vielfaches einfacher.
Diese Situation ist nicht nur völlig inakzeptabel, sondern geradezu grotesk. Wir bleiben auf der einen Seite mit dem Wirtschaftswachstum und den Forschungsausgaben zurück und subventionieren und unterstützen auf der anderen Seite die Vereinigten Staaten von Amerika.

Die Alternative wagen

Wie schon erwähnt: Die Wettbewerbsverhältnisse haben sich geändert. Es gibt zwei Möglichkeiten, darauf zu reagieren. Wir können unseren BürgerInnen im „alten“ Europa sagen, dass sie mit ihren Leistungen hinauf- und mit ihren Löhnen und Gehältern hinuntergehen müssen, sie also ein Unterminieren unserer erreichten Standards akzeptieren müssen. Die Alternative wäre, dass wir den Wettbewerb nicht durch ein Absenken der quantitativen Leistung, sondern durch eine Steigerung der qualitativen Leistungen bestehen und auf diese Weise versuchen, die Standards im Sozial-, Umwelt- und Kosnumentschutzbereich in den anderen Ländern und Regionen zu erhöhen und anzugleichen.
Niemand kann sagen, ob dieser Weg möglich ist, aber wir müssen trotzdem versuchen, ihn zu beschreiten. Nur so können wir unsere sozialen Errungenschaften zumindest bewahren – wenn auch mit Korrekturen und entsprechenden Anpassungen.

Wettbewerb ist nicht vermeidbar

Dieser Grundgedanke war auch die Basis der Umformulierungen zur Dienstleistungsrichtlinie der EU-Kommission, die wir im Europäischen Parlament vorgenommen haben. Wir waren überzeugt davon, dass nicht das billigste Angebot die Normen und Standards bestimmen soll, sondern die in einzelnen Ländern erreichten Standards auch weiterhin Geltung haben müssen – bei aller Offenheit der Märkte für Anbieter aus anderen Ländern der Europäischen Union.
Kalr ist allerdings: Wettbewerb ist nicht vermeidbar. Bei allen Aktionen, die wir jetzt setzen, um den Wettbewerb einzuschränken, hat doch die Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte in Europa gezeigt, dass der Wettbewerb durchaus Leistungen vollbringen kann, wenn er fair ist und auf die sozial Schwächeren Rücksicht nimmt. Gearde der Wettbewerb kann, wenn er hohe Leistungen erbringt, über die Steuerleistungen die sozial Schwachen unterstützen. Ein in einen vernünftigen Rahmen eingebetteter Leistungswettbewerb sollte also soziale Strukturen nicht zerstören, sondern soziale Leistungen vielmehr finanzieren und aufrechterhalten.

Erhöhter Leistungsdruck

Und trotzdem: In einer globalisierten Welt mit mehr Freizügigkeit beim Personenverkehr und bei der Migration wird der Leistungsdruck auf die einzelnen Menschen erhöht. Den Menschen beizubringen, wie sie diesem Leistungsdruck standhalten können, ist ganz ohne Zweifel Aufgabe der Schulen und Universitäten. Sie müssen dazu beitragen, die Leistungsfähigkeit der Menschen auch unter schwierigen Bedingungen zu steigern und sicherzustellen.
Dabei geht es nicht darum, eine krankmachende und auf permanente persönliche Konkurrenz ausgerichtete Gesellschaft zu schaffen. Das stünde in krassem Widerspruch zum europäischen Lebensmodell. Dennoch müssen wir uns darauf vorbereiten, dass es immer schwieriger wird, ruhige Nischen zu schaffen. Stattdessen stellen die Durchsichtigkeit und Durchlässigkeit der Gesellschaft und der Wirtschaft immer größere Leistungsanforderungen.

Die Menschen vorbereiten

Die jungen Menschen müssen vom Kindergarten über die Schule bis hin zur Universität auf diese Anforderungen vorbereitet werden. Im besonderen stellt sich diese Aufgabe für die Integration der ZuwanderInnen. Sie kommen oft ohne entsprechende Sprachkenntnisse und vielleicht auch ohne andere entsprechende Voraussetzungen zu uns. Angesichts der Anzahl der ZuwnaderInnen und der Menschen mit Migrationshintergrund sehe ich eine grobe Vernachlässigung dieser Bevölkerungsschicht. Das ist nicht nur gegenüber den Betroffenen äußerst unfair, sondern eine große Gefährdung der sozialen Struktur unserer Gesellschaft insgesamt. Daher bedarf es entsprechender Anstrengungen, aber vor allem auch qualifizierten Personals – also LehrerInnen, die eingesetzt werden können, um diese Ausbildungs-, Bildungs- und Integrationsaufgabe zu erfüllen.
Ich gehe dabei vom einem weitgehenden und umfassenden Bildungsbegriff aus, der nicht nur fertigkeiten und Fähigkeiten vermittelt, sondern auch an einem humanistischen Menschenbild orientiert ist. Ein solches Menschenbild darf nicht zulassen, dass bestimmte Teile der Gesellschaft oder der Jugend aus den Bildungs- und Integrationsansterngungen in die Gesellschaft ausgeklammert werden. Im übrigen hat sich die Europäische Union genau diese Aufgabe gestellt. Sie will die Ausschließung – ob aus sozialen, altersbedingten, geschlechtlichen oder Migrationsgründen – verhindern und bekämpfen.

Zutiefst europäische Aufgaben

So gelangt man über den Umweg der geänderten Wirtschaftsstruktur und die geändertzen globalen Verhältnisse zu der Erkenntnis, dass Europa seine Leistungsfähigkeit nur dann aufrecht erhalten kann, wenn es wesentlich mehr in Bildung und Forschungs investiert als bisher. Und genau aus diesem Grund sind Bildung und Forschung zutiefst europäische Aufgabenstellungen, die differenziert von den einzelnen Ländern und Regionen, Städten und Gemeinden in den jeweiligen Gesellschaften zu erfüllen sind.
Die durch Bildungs, Ausbildung, Forschung und Entwicklung ermöglichte Wettbewerbsfähigkeit in Europa ist kein Selbstzweck. Sie dient dazu, die sozialen, umweltmäßigen und kulturellen Leistungen und Standards, die wir uns erkämpft haben, auch aufrechtzuerhalten. Das geht nur, wenn es genügend Arbeitsplätze und genügend Einkommen gibt. Und das wiederum geht nur, wenn auch die Europäische Union, ihre Mitgliedsländer und ihre Bevölkerung zu Leistung befähigt sind. Und diese Aufgabe können nur Bildung und Forschung auf der Basis von Neugier und Interesse erfüllen.

Brüssel, 7.3.2006