Da kann man noch was lernen…

Die Rede des deutschen Bundespräsidenten Johannes Rau im Europäischen Parlament war die wahrscheinlich beste aller Reden, die man dort bisher von einem Staatspräsidenten gehört hat. 
Die vergangene Woche in Straßburg war durch eine Reihe von Besuchern gekennzeichnet, die sehr unterschiedliche und insgesamt äusserst interessante und lehrreiche Themen zur Sprache brachten.

Franco Rutelli, Kandidat der italienischen Linken

Zuerst besuchte uns in der Fraktion der Spitzenkandidat der italienischen Linken Mitte, Franco Rutelli, der bis vor kurzem Bürgermeister von Rom gewesen ist. Als solchen hatte ich ihn bei Besuchen in Rom und auch im Rahmen des Ausschusses der Regionen kennengelernt. Rutelli ist ein sehr netter und zuvorkommender Mann und zudem eine anerkannte und respektierte Persönlichkeit. Im Laufe der Zeit hat er sich zu einer wahren Berühmtheit gemausert und wurde so zuletzt auch als Kandidat der Linken bzw. der Linken Mitte gewählt, um Berlusconi zu schlagen.
Ich erinnere mich noch gut an viele Gespräche in Rutellis Amtszimmer am Kapitol, und auch heute noch ist es immer angenehm, ihn zu sehen und seine Wertschätzung mir gegenüber zu erfahren. Ich hoffe, dass er es schaffen wird, Berlusconi zu schlagen. Berlusconi, der – schlimm genug – eine sehr europakritische Politik vertritt und der vor allem mit dem extrem antieuropäischen Umberto Bossi kooperiert.

Antieuropäer Berlusconi

Berlusconi ist hier in aller Munde, denn er ist Mitglied des Europäischen Parlaments – was aber nicht heißt, dass er auch oft im Parlament anwesend ist. Derzeit ist Berlusconi ausserdem ein Streitfaktor zwischen den Fraktionen, vor allem zwischen der Linken und der Rechten. Ein Auslieferungsbegehren, das von Spanien, genauer vom Obersten Gerichtshof Spaniens gestellt worden ist, blieb im Parlament liegen und wurde schliesslich an die spanische Regierung gesandt mit der Anfrage, ob der Oberste Gerichtshof Spaniens überhaupt eine kompetente Behörde sei, um ein Auslieferungsbegehren zu stellen. Grund für das Begehren ist der Vorwurf massiver Steuerhinterziehung. Jedenfalls beschuldigt meine Fraktion – wie ich meine, zu Recht – die Präsidentin des Europäischen Parlaments, in diesem Fall sehr „unkritisch“ gehandelt zu haben, während andere Präsidenten in vergleichbaren früheren Fällen rascher reagiert und es nicht zugelassen hätten, dass die spanische Regierung über viele Monate einfach keine Antwort gibt.

Fragwürdige politische Vorgehensweise

Nicht nur ich, sondern auch viele andere werden das Gefühl nicht los, dass seitens der Europäischen Volkspartei, der Berlusconi angehört, sowie der spanischen Konservativen, die in der Regierung sind, und schliesslich von den italienischen Christdemokraten und der Forza Italia entsprechend massiver Druck auf Nicole Fontaine und einige ihrer Mitarbeiter ausgeübt wird, um das schon vor einem Jahr gestellte Ansuchen um Aufhebung der Immunität nicht zu beantworten.
Aus meiner Sicht handelt es sich in der Tat um eine äusserst fragwürdige politische Vorgehensweise. Offensichtlich wird Berlusconi Schutz angeboten – jedenfalls so lange, bis die Wahlen geschlagen sind. Denn wenn Berlusconi erst einmal Ministerpräsident ist, genießt er ohnedies Amtsimmunität. Und wenn er nicht Präsident des Ministerrats wird, dann ist wahrscheinlich auch nicht mehr so entscheidend, was geschieht.

Johannes Rau, der beste aller Redner

Der zweite Besuch in Strassburg war jener des deutschen Bundespräsidenten Johannes Rau. Rau hat im Parlament eine Rede gehalten, die wahrscheinlich die beste aller Reden war, die wir bisher von einem Staatspräsidenten gehört haben. Sie war ein klares und eindeutiges Bekenntnis zu Europa. Zu einem Europa als einer Föderation von Nationen, aber mit einem klar definierten Anspruch an ein gemeinsames Europa mit europäischen Institutionen – also die Kommission und das Parlament -,die gestärkt werden sollten, und einer sehr eingeschränkten Rolle für nationale Regierungen und vor allem die nationale Regierungszusammenarbeit, die die gemeinschaftliche Politik der EU nicht ersetzen sollte.
Raus Grundidee ist die, dass es im Parlament ein gleichgewichtig agierendes Zweikammernsystem geben soll: das direkt gewählte Parlament, wie es jetzt existiert und den Rat bzw. die Räte, die in eine zweite parlamentarische Kammer umgewandelt werden. Seiner Meinung nach sollten diese Kammern auch den Kommissionspräsidenten wählen und es sollte ein normaler, fast staatlicher Aufbau erfolgen, wenngleich die Kompetenzen einer solchen Europäischen Union natürlich nicht massiv auf Kosten der nationalstaatlichen Kompetenzen ausgebaut werden dürfen, sondern man mit sehr großer Vorsicht in der Kompetenzfrage vorgehen muss.

Europäische Verfassung

Rau stellt sich ausserdem ganz klar eine Verfassung vor, die er auch so nennen möchte, wobei er drei Teile vorsieht: Einerseits eine Verfassung der Grundrechte, die im Grundsatz bereits beschlossen ist; zum zweiten eine Verfassung der Institutionen und der Regeln der EU; und schliesslich einen Verfassungsteil, der die Kompetenzen der Europäischen Union und die Kompetenzen der Regionalstaaten bzw. der regionalen Ebenen regelt. Rau hat das klar ausgedrückt, was ich im Grundsatz schon vor einiger Zeit in einem Beitrag formuliert habe. Ich plädiere ebenfalls für dieses Modell, allerdings spreche ich nicht von einer Verfassung, sondern von einer Charta, die aus drei Teilen bestehen soll.

Raus Vorschlag ist allerdings ein Aufbau, der weiter geht, als ich das in meinen Vorstellungen niedergeschrieben habe. Manches ist klarer definiert, während Rau in andern Fragen wieder zurückhaltender ist. Ihm scheint etwa die Variante der Wahl des Präsidenten der Kommission durch die beiden Kammern die bessere Variante zu sein während ich meine, dass die Direktwahl des Kommissionspräsidenten im Zusammenhang mit der Parlamentswahl stärkeren unmittelbaren Bezug zwischen der Bevölkerung Europas und der Spitze der Quasi-Regierung Europas herstellen sollte.

Bleibender Eindruck

Wie gesagt, wir waren alle sehr begeistert – bis in die Reihen der Konservativen hinein. Eine Ausnahme bildeten natürlich die britischen Konservativen. Am Anfang haben sie zwar beifällig genickt, als Rau die Frage gestellt hat, wie weit die Europäische Union wirklich in den Herzen der Bürger verankert sei und wie weit die Menschen Brüssel nicht sehr weit entfernt sehen von ihren Sorgen und Nöten. Bei den klaren Antworten, die Rau gegeben hat, sind sie allerdings immer unruhiger, erstarrter und bleicher geworden…
Raus Auftritt war sicherlich der Höhepunkt nicht nur dieser Woche, sondern unserer parlamentarischen Tätigkeit insgesamt – jedenfalls was die Ansprachen betrifft, die verschiedene Präsidenten vor dem Europäischen Parlament von Zeit zu Zeit halten.

Ahmed Shah Massud, Kommandant und Rebell

Der dritte Besuch war ein ganz anderer. Es handelte sich um keinen Europäer, sondern um einen afghanischen Kommandanten – einen Kommandanten der Streitkräfte oder der Rebellen, je nachdem, wie man es sieht. Die Rede ist von Ahmed Shah Massud, der versucht, mit aller ihm zur Verfügung stehenden Kraft die Herrschaft der Taliban in Afghanistan zu brechen. Auch wenn Massud eine Reihe von Rückzugskämpfen kämpfen musste, ist er guter Hoffnung, dass er bei verschiedenen Initiativen der nächsten Zeit Erfolge erzielen kann.
Oberstes Ziel ist natürlich die Unterstützung der Talibane durch die Pakistani. Innerhalb, aber auch außerhalb der Regierung besteht eine sehr schwerwiegende Gegnerschaft und er meinte auch uns gegenüber in einem Gespräch bei einem gemeinsamen Mittagessen, zu dem die Präsidentin des Parlaments eingeladen hat, dass sich die Talibane nur halten können, wenn es einerseits massiven Einfluß und massive Unterstützung der Pakistani gibt und andererseits Kompromisse seitens Ussama Ibn Ladin, einem der Hauptfeinde der Amerikaner, der von den Partisanen versteckt wird. Zu ihm gibt es zwar immer wieder Äußerungen der Distanzierung, diese dürften aber de facto nach wie vor von einer sehr großen Zusammenarbeit zwischen den Talibanen, den pakistanischen Fundamentalisten und zum Teil auch Streitkräften überlagert werden.

Afghanistan, ein a-typisches Land

Afghanistan, das ca. 13 Millionen Einwohner zählt, ist ein a-typisches Land der heutigen Zeit, das aus sehr unterschiedlichen Bevölkerungsschichten und Gruppen zusammengesetzt ist: 40 Prozent sind Paschtunen, 25 Prozent Tadschiken – zu diesen zählt auch Massud, der Anführer der Rebellen bzw. jener Truppen, die die Talibanen bekämpfen -, 15 Prozent sind mongolstämmige Hesoren und fünf Prozent Usbeken. Die Delegation von Massud bestand aus allen vier Bevölkerungsgruppen, die die Bevölkerung Afghanistans ausmachen.
Beim Mittagessen saß ich zwischen dem Außenminister und dem Botschafter Afghanistans in Indien, denn die meisten Länder anerkennen ja nach wie vor das Taliban-Regime nicht, sondern versuchen mehr oder weniger, Massud und seine Gefolgsleute zu unterstützen. Das Taliban-Regime ist zuletzt durch die brutale Zerstörung von buddhistischen Kulturgütern aufgefallen. Was allerdings noch viel schwerer wiegt ist die massive Unterdrückung der Frauen, die ihresgleichen selbst im übrigen muslimischen Raum sucht.

Verworrene Situation

Die Gespräche mit Massud zeigten, dass auf der einen Seite ungeheure Unterdrückung und extremer Fanatismus herrschen, auf der anderen Seite aber doch der Wille vorhanden ist, diese Art von Fanatismus nicht anzuerkennen. Denn auch Massud war ja nie ein lupenreiner Demokrat und Förderer der Frauenrechte. Aber die Geschichte bringt es mit sich, dass man manchmal Entscheidungen treffen muss, die man mit dem Ziel unterstützt, das Böse durch etwas zu ersetzen, das einem vielleicht nicht hundertprozentig gefällt, aber letztendlich doch zu einer gewissen Befreiung der unterdrückten und armen Bevölkerung führt. Das ist auch wichtig, weil eine Reihe von Rebellen, die jedenfalls noch heute Teile des Taliban unterstützen, in andere Länder gegangen sind, beispielsweise nach Algerien, wo sie auch ihr Unwesen treiben und die Terroristen anstiften, unterrichten etc.
Die Taliban werden von zwei Ländern aus unterstützt, die von den Amerikanern auch unterstützt werden: Pakistan und Saudi-Arabien, auch wenn Saudi-Arabien sich in einem gewissem Sinn distanziert hat. Auf meine Frage an Massud, wie es mit dem Iran stehe, meinte er nur kurz, dass ihm vor allem die neue Regierung bzw. die Umgebung von Katami durchaus positiv gegenüber stehe. Aber es scheint nicht so zu sein, dass die Beziehungen besonders herzlich sind. Insbesondere wenn, wie mir der Außenminister gesagt hat, Geschäftsbeziehungen zwischen dem Iran und auch dem Taliban-Regime wieder aufgenommen wurden.
Afghanistan ist heute durch eine sehr verworrene Situation geprägt. Wir können als Europäer wahrscheinlich momentan nur gewisse Signale setzen, indem wir Massud gegen die Talibane unterstützen und überall dort, wo es möglich ist, auch humanitäre Hilfe leisten.

Europäischer Alltag

Neben den Besuchen dieser drei Persönlichkeiten ging es in dieser Strassburgwoche natürlich auch um viele Alltagsprobleme, und nicht zuletzt auch um den Beschluss meines Papiers zu Fragen der Regierungsformen bzw. des demokratischen Regierens in Europa durch die Fraktion.
Diese Debatte ist im Vorfeld schon längere Zeit gelaufen. Wir haben auf Parlamentsebene mit den Koordinatoren und dem Vorstand diskutiert und ein Hearing veranstaltet. Natürlich gab es auch in der Fraktion Diskussionen und einige aus dem Sozialbereich meinten, das Papier sei zu kritisch gegenüber den Nicht-Regierungsorganisationen und sollte nicht so stark auf das Parlament fokusiert werden.
Schon in meiner früheren Funktion als Wiener Stadtrat habe ich immer wieder mit Organisationen der Zivilgesellschaft, mit Vereinen, Verbänden, Pressuregroups etc. zusammengearbeitet. Ich habe Greenpeace und andere Organisationen eingeladen, damit insbesondere bei Verkehrsfragen neben den Autofahrern auch Auto-kritische Organisationen und Organisationen, die für den öffentlichen Verkehr plädierten, eingebunden waren. Aber ich habe früher wie heute immer betont, dass die endgültigen Entscheidungen von den gewählten PolitikerInnern – ob das im Gemeinderat, im Landtag, auf nationaler Ebene oder auf EU-Ebene ist – getroffen werden müssen.

Demokratisches Regieren

Dabei geht es nicht darum, dass etwa nur Parlamentarier vernünftig und klug genug sind, um Entscheidungen zu treffen, sondern um das demokratische Grundprinzip. Ich bin nicht der Meinung wie andere Kolleginnen und Kollegen, die meinen, man könne gewissermaßen in vermehrten Ausmaß Entscheidungen an die „Zivilgesellschaft“ übertragen bzw. abschieden. Ich treffe mich erst dort mit diesen, wo es zuerst um die Vorbereitung eines Entscheidungsprozesses und schliesslich danach um die Durchführung, die Implementierung geht. Die politischen Entscheidungen selbst sollen und müssen aber von PolitkerInnen getroffen werden.
Manchen mag diese Unterscheidung zwischen Vorbereitung der Entscheidung selbst und Durchführung künstlich erscheinen. Doch wir sehen, wie in gewissen Kreisen der Europäischen Kommission, des Europäischen Rates und sicherlich auch in gewissen Medien versucht wird, die Rolle des Parlaments auszuhöhlen und die Demokratie, vor allem auch die parlamentarische, zu verwischen und zu verwaschen. Dann vor allem müssen wir als ParlamentarierInnen sehr wohl Halt rufen und entsprechende Grenzen ziehen.

Vernünftiger Mittelweg

Mein Papier ist schliesslich abgestimmt und auch mit großer Mehrheit beschlossen worden. Aber natürlich geht die Debatte weiter, und wir haben auch überlegt, in welchen Teilbereichen weiter diskutiert werden soll. Einerseits war es mir wichtig, diejenigen, die all zu streng und ablehnend gegenüber neuen Ideen sind, in einer Plattform zu vereinigen, sodass sie diskutieren, wie man neue Ideen und auch die Zivilgesellschaft, die Bürgerinnen und Bürger, stärker in den europäischen Handlungsprozeß einbeziehen kann. Und andererseits ging es mir auch darum, jenen, die all zu schnell unterwegs sind, zu verdeutlichen, dass sie nicht auf ihre eigenen Position in jenen Organ, in denen sie gewählt worden sind, vergessen dürfen. Manche fühlen sich zwar im Europäischen Parlament aktiv, aber oftmals wollen in den „Umgebungen“ des Parlaments, wenn sie zu Kommissionen und anderen Institutionen zur Beratung eingeladen sind.
Hier einen vernünftigen Mittelweg zu finden, war meine Aufgabe und ich glaube, dass mein Papier, das nun offiziell an die Kommission übermittelt wird, das auch leistet. Aber sicher müssen wir jetzt an vielen Details, wie wir diesen Entscheidungsprozeß reformieren können, weiterarbeiten und dabei immer im Auge behalten, dass es uns um ein demokratisches Regieren geht, weil Europa eben ein demokratisches Projekt ist. Ein Projekt, mit dem der globalen Entwicklung, der Globalisierung, ein demokratischer Rahmen gegeben wird, und bei dem wir nie eine Hinnahme von internationalen Trends, eine Verbeugung vor dem internationalen Markt und den internationalen Konzernen akzeptieren können. Die Globalisierung muss als eine Chance gesehen werden, auch die internationalen Beziehungen demokratisch zu gestalten. 
Strassburg, 6.4.2001