Das Europa der Grande Nation

Startschuss für die Übernahme der Präsidentschaft der Europäischen Union durch Frankreich. 
Gestern und heute fand das traditionelle Gespräch mit der zukünftigen französischen Präsidentschaft statt.

Unsere Gesprächspartner waren die hochrangigsten sozialdemokratischen Vertreter, die Frankreich zu bieten hat: Ministerpräsident Lionel Jospin, Außenminister Hubert Vedrin, Verteidigungsminister Alain Richard, Finanzminister Laurent Fabius, Sozialministerin Martine Aubry, Justizministerin Elisabeth Guigou sowie mehrere Ministerinnen, die mit diesen so genannten „Superministern“ arbeiten. Wir konnten uns also wirklich nicht über die Hochrangigkeit unserer Gesprächspartner beschweren.

Die Neugestaltung der EU

Natürlich stand dabei, neben vielen Detailfragen, die Frage der zukünftigen Gestaltung der EU, insbesondere im Zusammenhang mit der Regierungskonferenz und der Grundrechtscharta, zur Diskussion. Die VertreterInnen der französischen Regierung präsentierten eine Mischung aus Grundsatzüberlegungen und sehr pragmatischen Ansätzen. Das war bei der sympathischen und ernsthaften, aber dennoch durchaus durch manchen Witz unterbrochenen Präsentation von Jospin der Fall, aber natürlich auch im Besonderen bei Martine Aubry, der Tochter von Jacques Delors. Martine Aubry kann nicht leugnen, dass sie die Delors Tochter ist, verkörpert sie doch genau jene markante Mischung aus Pragmatismus und Vision, die für Delors so charakteristisch war.
Dabei war für mich erfreulich zu hören, dass Aubry der Ansicht ist, heute könne in den Gremien der EU weit mehr über Fragen der sozialen Absicherung, über die Verhinderung des Ausschlusses aus dem Sozialsystem, auch über die Frage der Sicherheit des Arbeitsplatzes diskutiert werden, als dies noch vor zwei, drei Jahren der Fall war, als ausschließlich Marktorientierung, Wettbewerb und die Befähigung, am freien Arbeitsmarkt tätig zu sein, im Mittelpunkt der Überlegungen stand.

Fragwürdiger Chirac-Vorschlag

Aber zurück zum Kern unserer Debatte. Wie soll die EU der Zukunft aussehen? Chirac, der Präsident Frankreichs, hat vor wenigen Tagen vor dem deutschen Bundestag eine Grundsatzrede gehalten. Betrachtet man die Überschriften in deutschen, französischen, aber auch in anderen Zeitungen, dann kann ich auf jeden Fall erfreut sein. Chirac schlägt eine europäische Verfassung vor.
Geht man den Dingen aber näher auf den Grund, dann ist die Freude getrübt. Der französische Staatspräsident schlägt gleichzeitig vor, dass es einen Kern von Pionierstaaten geben soll, die weiter gehen als die anderen und die sich ein eigenes Sekretariat geben sollen, mit dem sie gewissermaßen die Fortschritte und Entwicklungen, die sie machen wollen, verwalten, administrieren, begleiten wollen.

Zweigeteilte EU

Chiracs Vorschlag läuft also letztendlich auf ein doppeltes System, eine zweifach gegliederte EU hinaus: Ein enger Kern, der sogar eine kleine eigene Institution bekommen soll, und die weitere EU. Bei all dem ist von der Kommission und von parlamentarischer Kontrolle relativ wenig die Rede. Und auch bei den Gesprächen, die wir in diesen beiden Tagen in Paris geführt haben, kam immer wieder zum Ausdruck, dass die französische Regierung ein Mehr an Europa will. Aber dieses Mehr an Europa soll im Wesentlichen von den Mitgliedstaaten getragen werden. Der Rat bzw. ein Teil des Rates soll sich zu mehr Zusammenarbeit entschließen, die Kommission und das Parlament dagegen sind auch wichtig – aber sie sind nicht so entscheidend für die Weiterentwicklung Europas, wie ich und viele meiner KollegInnen das sehen.

Das kam auch sehr deutlich zum Ausdruck, als ich den Verteidigungsminister Alain Richard danach fragte, was er denn vom Vorschlag des Europäischen Parlaments halte, angesichts der zunehmenden gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik diesen Prozess durch Vertreter der nationalen Parlamente und des Europäischen Parlaments begleiten zu lassen und ihm dadurch eine parlamentarische Dimension zu geben. Ich habe schon in aller Vorsicht nicht von Kontrolle oder von Entscheidungen durch ein solches, relativ locker zu haltendes Gremium gesprochen.
Alain Richard hat auf meine Frage trotzdem ziemlich unverblümt zugegeben, dass er davon nicht viel halte. Die nationalen Parlamente seien ohnedies weiterführend für die nationale Verteidigung zuständig, würde es zu einer übernationalen Sicherheits- und Verteidigungspolitik kommen, dann wäre dies das Ende der Kooperation auf diesem Gebiet. Daher sähe er nicht ein, warum es hier einer besonderen parlamentarischen Dimension bedürfe.

Aufweichung der europäischen Konzeption

Diese Unterredung war keinesfalls ein Einzeleindruck. Auch bei anderen Gesprächen kam immer wieder zum Ausdruck, dass sich dieses Europa durch eine engere Zusammenarbeit der Nationalstaaten stellen soll. Wir müssen im Parlament und in der Europäischen Kommission deshalb besonders aufpassen, dass durch diese Haltung nicht eine Aufweichung der europäischen Konzeption entsteht.
Davor haben auch die Vertreter des Parlaments bei der Regierungskonferenz gewarnt. Es gibt Bestrebungen beim Rat, das Parlament sogar wieder zurückzudrängen. Für manche ist ein Störfaktor, ein unliebsamer Unruhestifter, der die Kommission und den Rat immer wieder in Schwierigkeiten bringt, der die gemeinsamen Standpunkte von Rat und Kommission immer wieder in Frage stellt.
Vielleicht überzeichne ich etwas, aber ich befürchte, es entspricht den Tatsachen.

Befürchtungen

Bei der Präsentation der französischen Präsidentschaft hat mir Vieles gefallen. Vor allem die Argumente für das soziale Europa, für die Bewahrung und Stärkung öffentlicher Dienstleistungen, um nicht alles blindlings dem Markt zu unterwerfen. Aber liest man die Rede von Chirac vor dem deutschen Bundestag genau und hört man vor Ort die Töne und manchmal auch die Zwischentöne der Präsentation unserer französischen GesprächspartnerInnen, dann bleiben am Beginn dieser Präsidentschaft dennoch drei Sorgen bestehen.
Erstens: Das langfristige Ziel ist die Stärkung Europas durch verstärkte Zusammenarbeit der Nationen, der Länder.

Gefahr des Zweiklassen-Europas

Zweitens: Es besteht die Absicht, die EU durch die Zusammenarbeit einiger Kernländer, wozu natürlich Frankreich und Deutschland gehören, zu stärken. Es gibt dabei zwar eine gewisse Offenheit gegenüber anderen Ländern und nicht nur den ursprünglichen Mitgliedsländern gegenüber. Trotzdem bleibt die Gefahr einer Trennung zwischen einem Kerneuropa und dem Resteuropa bestehen.
Sicher, man kann nicht leugnen, dass ein Europa, das sich nur darauf verlässt, dass immer alle mitmachen, vor allem nach der Erweiterung kaum große Schritte setzen wird.
Ich glaube aber, dass die Bedingungen für eine verstärkte Zusammenarbeit eines Kerns oder eines Teils jedenfalls ganz genau zu überlegen sind. Die Kommission muss in diesem Kontext als Wahrerin des Rechts und der Einheit der EU fungieren – und zwar gemeinsam mit dem Parlament – und beide Institutionen müssen ebenfalls eine übergeordnete Gesamtverantwortung haben und in diesem Prozess entsprechend stark verankert sein.

Nicht nur leere Phrasen

Drittens: Jospin hat zwar deutlich klar gemacht hat, dass er für soziale und wirtschaftliche Grundrechte eintritt. Die Verankerung dieser Rechte in den Vertrag der EU und damit auch die Justizierbarkeit dieser Rechte sind jedoch der französischen Präsidentschaft kein großes Anliegen. Seinem Hinweis, es müsse weiterhin Politik gemacht werden, kann ich vom Grundsatz her durchaus etwas abgewinnen. Aber ich bin überzeugt, dass es auch einklagbare Rechte geben muss – gerade auch wirtschaftliche und soziale Rechte, die letztendlich auch der Bürger gegenüber diesem Europa durchsetzen kann.
Und genau dafür soll es ja die Grundrechtscharta der EU geben. Gelingt es nicht, das durchzusetzen, ist die Gefahr zu groß, dass es bei leeren und hohlen Phrasen, bei Deklarationen bleibt, und ist die Gefahr zu groß, dass Deklarationen wieder einmal mit Politik verwechselt werden.

Gemeinsam statt nationalistisch

Unterm Strich waren es sicher interessante Gespräche und Diskussionen, die wir in Paris geführt haben. Und die Empfänge in der Nationalversammlung und gestern Abend im Quai ? haben den Glanz der Grand Nation zum Ausdruck gebracht. Aber, wie gesagt, die europäische Gesinnung, die hier vorhanden ist, kann nur in gemeinsamen Institutionen umgesetzt werden, die das Europa insgesamt, die alle, die zur EU gehören, repräsentieren. Alle anderen Lösungen können nur Zwischenlösungen sein, um voranzugehen, aber nicht, um eine Gliederung oder Teilung der EU zu erzeugen.
Ich bin mir dabei durchaus bewusst, dass manche vielleicht nicht einmal so weit gehen wollen wie die Franzosen, die Engländer oder die Dänen. Diejenigen etwa, die diesem Europa auch gemeinsam Funktionen geben, die keineswegs die Nationalstaat ersetzen sollen oder können. Sie werden sich anstrengen müssen, um nicht nur jene, die ohnedies auch in Regierungen die starke Position der Nationalstaaten und der nationalen Regierungen vertreten, zu überzeugen, sondern natürlich auch die Bevölkerung, die diesen manchmal aufgeklärten Nationalismus durchaus vieles abgewinnen kann. Und damit meine ich nicht einmal jenen fast hetzerischen Nationalismus, der sich gerade in Österreich und insbesondere in den österreichischen Medien breit gemacht hat. Unsere Aufgabe in Österreich ist in diesem Zusammenhang noch viel größer als in vielen anderen Ländern.

Problemkind Polen

Meine kritischen Anmerkungen, die ich vor kurzem gegenüber Polen gemacht habe und die Sie in diesen „Briefen aus Europa“ nachlesen können, haben sich übrigens – so eine Bemerkung am Rande – in den letzten Tagen bestätigt. Außenminister Geralek ist trotz des Rücktritts der übrigen Minister aus der Freiheitsunion, aus der Koalition, Außenminister geblieben, um eine große Konferenz vieler Außenminister zu Fragen der Demokratie und der Demokratisierung zu leiten. Zum Abschluss dieser Konferenz gab es einen Zwischenfall bzw. eine Missstimmung, da sich Frankreich geweigert hat, die gemeinsam Schlussfolgerung zu unterzeichnen. Das hängt damit zusammen, dass Frankreich, wie mir der französische Außenminister Vetrin bestätigt hat, diese gemeinsame Erklärung bereits fertig formuliert ausgehändigt bekam und es keine Möglichkeit bzw. Bereitschaft von Polen gab, über diese Erklärung zu diskutieren bzw. sie noch abzuändern.

Fragwürdiges Demokratieverständnis

Vetrin wollte diesen Zwischenfall keineswegs überbewerten. Er meinte aber, wahrscheinlich zu Recht, dass in anderen Kandidatenländern eine solche, doch etwas eigenartige Haltung kaum vorkommen würde. Immerhin, Polen ist sicherlich das wichtigste Beitrittsland. Mir scheint es allerdings doch bezeichnend zu sein, wie Polen in diesem Fall vorgegangen ist. Die Kritik Vetrins an der Einladungspraxis und an der konkreten Vorgangsweise bei der Resolution und der Unterstützung der amerikanischen Schwarz-Weiß-Politik sowie bei ihrer doch sehr einseitigen Art und Weise, wie sie festlegen, wer demokratisch ist und wer nicht, ist sicherlich berechtigt – wenngleich man auch bei Frankreich und anderen Großmächten einen Zweifel haben kann, wie die Erstbeurteilungen zu Stande kommen.

Klärung des Reisziels

Trotzdem, mich freut es keineswegs, dass sich meine Beurteilung auf Grund meines letzten Polenbesuches bestätigt hat. Aber es zeigt, dass es noch viele Gespräche, gerade mit diesem Kandidaten, geben wird müssen, um definitiv abzuklären, in welche Richtung wir gemeinsam gehen sollen. Denn dass Polen natürlich für die EU wichtig ist und in diesem Erweiterungsprozess eine große Rolle spielen wird und spielen soll, scheint auch für mich unumstritten.
Aber wir sollten die Dinge nicht zu leicht nehmen und uns keine Illusionen machen. Die Erweiterung wird gerade mit diesem großen wichtigen europäischen Land nicht so einfach sein, wie es Viele darstellen, und trotzdem oder gerade deshalb müssen wir zumindest wissen, wohin die Reise geht – gemeinsam mit Polen. 
Paris, 30. Juni 2000