Die dünne Decke der europäischen Gesinnung

Der Vorschlag von EU-Kommissar Verheugen, für Deutschland eine Volksbefragung zur Erweiterung durchzuführen, sorgte auch in der ersten Plenarsitzung für Aufregeung. 
Die erste Parlamentswoche in Strassburg ist zu Ende. Sie war nicht zuletzt durch viele Diskussionen über ein Interview des Erweiterungskommissars Günter Verheugen gekennzeichnet. Verheugen hatte im Gespräch mit Süddeutschen Zeitung eine Grundsatzüberlegung angestellt und einen konkreten Vorschlag gemacht.

Umstrittener Verheugen-Vorschlag

Seine Grundsatzüberlegung kann ich voll unterstützen. Dem Verhalten vieler Mitgliedsregierungen, die in verschiedenen Erklärungen die Erweiterung zwar grossmächtig propagieren, dann aber wenig dafür tun, um den Dialog mit der eigenen Bevölkerung über diesen Prozess zu führen, setzte Verheugen die Forderung entgegen, dass wir alle uns mehr bemühen müssen, um die Menschen für die Erweiterung zu gewinnen. Und in diesem Zusammenhang machte er für Deutschland den Vorschlag, eine Volksbefragung zur Erweiterung durchzuführen. Sicher, einerseits mag das ein Fehler gewesen sein. Andererseits aber hat es die Debatte auch um die Grundsatzfrage angeheizt. Viele im Europäischen Parlament und auch Kommissionspräsident Romano Prodi waren im Anschluss um Schadensbegrenzung bemüht, bekannten sich zu einer sogar beschleunigten Erweiterung und verwarfen die Idee einer Volksbefragung.
Nochmals sei es gesagt: Eine Volksbefragung in Sachen Erweiterung und noch dazu nur in einigen, vielleicht sogar besonders erweiterungsskeptischen Staaten, wäre sicher kein pro-europäischer Schritt. Aber der Einsatz der direkten Demokratie – vernünftig angewandt – würde die PolikerInnen zwingen, sich um eine Vermittlung ihrer europäischen Anliegen zu bemühen. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass zu wichtigen europäischen Grundsatzentscheidungen in ganz Europa Referenden abgehalten werden. Eine – doppelte – Mehrheit der Bevölkerung und Staaten wäre dann, ähnlich wie in der Schweiz, notwendig, um Beschlüsse wirksam werden zu lassen.

Einsturzgefahr

Wie immer man dazu stehen mag: Ich erlebe den Mangel an Auseinandersetzung vor Ort immer wieder schmerzlich – gerade in Österreich. Es ist weniger eine Ablehnung der EU und auch nicht der Erweiterung. Es handelt sich eher um Skepsis und Unverständnis. Sicher, die Menschen gewöhnen sich an vieles, auch an ein noch so erweitertes und vertieftes Europa. Aber wie gerade die Reaktionen in Österreich nach den Massnahmen der EU-14 gezeigt haben: Die Decke der europäischen Gesinnung ist noch sehr dünn und droht jederzeit einzustürzen. Und wenn die derzeitige populistische Linie weiter verfolgt wird, wird die Einsturzgefahr täglich grösser! 
Strassburg, 8.9.2000