Die Zeichen des 11. September

Wenn wir die Zeichen von New York und Washington nicht verstehen, müssen wir damit rechnen, dass es zu weiteren schweren Erschütterungen in dieser Welt kommt. 
Soeben habe ich ein Fernsehinterview mit den Botschaftern der formal anerkannten Regierung Afghanistan und der jetzigen Nordallianz in Indien gesehen. Diese Botschafter waren enge Berater des durch ein Selbstmordattentat ums Leben gekommenen Führer dieser Allianz, Kommandeur Ahmed Sha Massud.

Die Berater des ermordeten Massud

Massoud war einmal mein Tischnachbar bei einem Essen, das Parlamentspräsidentin Nicole Fontaine zu Ehren von Massud gegeben hatte. Ich habe mich bei dieser Gelegenheit ausführlich mit ihm unterhalten und lange mit ihm über Afghanistan und das Verhältnis der Nachbarländer zur Nordallianz gesprochen. Indien hat bekanntlich in einer gewissen Gegnerschaft zu Pakistan die Nordallianz massiv unterstützt und so hatte der Botschafter in Indien eine hervorragende Stellung im Beraterkreis des Kommandeur Massud.
Das Attentat auf Massud hat wenige Tage vor den Attentaten in New York und Washington am 11. September stattgefunden. Ob es in Zusammenhang damit stand, kann ich nur vermuten, es ist nicht bewiesen. Es wäre allerdings schon ein großer Zufall, dass in einer Situation, in der klar war, dass Afghanistan in eine Krisensituation geraten würde, Massud als ein möglicher Partner bei einer Intervention in Afghanistan ums Leben kommt.

Artikel fünf tritt in Kraft

Wir haben in diesen Tage im Europäischen Parlament offiziell und inoffiziell immer wieder über die Situation nicht nur in Afghanistan selbst, sondern im Zusammenhang mit dem Antiterrorismus-Bündnis gesprochen. Die NATO hat jetzt ausserdem den Artikel fünf endgültig in Kraft gesetzt. Es ist den Amerikanern gelungen, sie zu überzeugen, dass es Beweise gegen Osama bin Laden gibt.
Der generelle Beschluss unmittelbar nach den Attacken war dahingehend formuliert, dass bei einem solchen Nachweis der Bündnisfall, also die Pflicht zur Hilfe und Unterstützung der Amerikaner bei der Abwehr weiterer Attacken und der Bewahrung ihrer Sicherheit, eintritt.

Zu klein?

Sogesehen mag es durchaus logisch sein, dass es innerhalb der NATO zu dieser Konsequenz gekommen ist. Es ist allerdings nicht ganz einsichtig, wie diese Information kommuniziert wurde. Am vergangenen Dienstag besuchte der belgische Außenminister Michel den aussenpolitischen Ausschuss im Europäischen Parlament. Mein Kollege Iannis Sakellariou befragte ihn sehr konkret, ob er die entsprechenden Informationen, die die Amerikaner hinsichtlich der Beweislage gegen Osama bin Laden angeblich vorgelegt hätten, gesehen habe. Michel antwortete: „Nein, ich habe sie nicht gesehen, wahrscheinlich bin ich zu klein dafür“.
Nun, ich glaube nicht, dass Michel damit seine tatsächlich kleine Statur gemeint hat, sondern vielmehr sein Land, seine Funktion in diesem Land oder auch seine Funktion als Ratsvorsitzender der Europäischen Union. Diesmal war es eine ehrliche Antwort.

Fragwürdige Größenverhältnisse

Eine Antwort, die allerdings auch zeigt, wie die Größen- und Machtverhältnisse innerhalb der NATO gelagert sind: Der Außenminister eines NATO-Staates, der noch dazu gleichzeitig als Ratsvorsitzender sehr aktiv am Antiterrorismus-Bündnis arbeitet, hat – etliche Stunden nach dem in Brüssel gefassten NATO-Beschluss – eigentlich keine Information darüber, dass Bin Laden als Verursacher dieser Terroranschläge gilt und verfügt auch über keine diesbezüglichen Positionen.
Einige vermuten, dass auch andere Verursacher, zum Beispiel Saudi Arabien, zwar nicht per offiziellem Regierungsbeschluss, aber doch durch hohe Kreise gestützt an solchen Attentaten beteiligt sein könnten. Und man wollte den Bündnispartner Saudi Arabien wohl kaum in den Mittelpunkt der Kritik bzw. Auseinandersetzung stellen.

Rhetorische Gratwanderung

Wie immer auch die Debatte über die Ursachen der Terroranschläge und die Versuche, ein Antiterror-Bündnis zu schließen, verlaufen – es geht weiter. Und einige meinen nach wie vor, wenn man in diesem Zusammenhang auch nur andere Faktoren wie Armut, Hunger oder den Naher Osten erwähnt, dies als eine Art versteckte Rechtfertigung für das gilt, was in den USA geschehen ist.
So ist es auch EU-Kommissar Paul Nielson ergangen, der von rechter Seite beschuldigt wurde, solche zumindest missverständliche Äußerungen gemacht zu haben. Aber das Missverständnis liegt weniger bei denen, die derartige Äußerungen tätigen, sondern vielmehr bei denen, die jeglichen Ansatz einer Schilderung des weiteren Umfeldes und Nährbodens des Terrorismus zurückweisen.

Back to Law and Order

Die Rechte versucht in diesen Zeiten, den Konsens zu definieren, vorzugeben und durchzusetzen. Oder, wie es ein CSU-Abgeordneter im Zusammenhang mit der Terrorismusdebatte in Deutschland formuliert hat: Die Zeit der freien Gesellschaft ist vorbei. Jetzt muss wieder Recht und Ordnung herrschen, jetzt bestimmen wieder die Ängste, die Furcht, die Disziplin und die Disziplinierung der öffentlichen Debatte das Geschehen, und Abweichler werden entsprechend geahndet.
Selbst in manchen Stellungnahmen aus unserer Fraktion ist ein solcher Ton wahrnehmbar, allerdings vorsichtiger, zurückhaltender. Aber die Debatte findet, wie wir gestern Abend bei unserem außenpolitischen Abendessen festgestellt haben, eben auch in unseren eigenen Reihen statt. Dabei ist mir persönlich klar, dass die Amerikaner reagieren müssen und das Geschehene nicht so einfach über sich ergehen lassen dürfen.
Aber ebenso klar ist mir, dass insbesondere die Europäer darauf drängen müssen, dass die militärische Aktion – die sehr begrenzt und gezielt ausfallen muss – die Ursachen, das Umfeld und den Nährboden des Terrorismus nicht wirklich bekämpfen kann und es jedenfalls an der Zeit ist, darüber nachzudenken, wie diese Welt gerechter, sozialer und gleichgewichtiger gestaltet werden kann – auch und vor allem, um tatsächlich eine möglichst breite Unterstützung im Kampf gegen den Terrorismus zu haben.

Die Zeichen verstehen

Wenn wir die Zeichen von New York und Washington – und das meine ich nicht im übernatürlichen Sinn – nicht verstehen, dann müssen wir damit rechnen, dass es zu weiteren schweren Erschütterungen in dieser Welt kommt.
Denn wann immer wir von Freiheit, offener und multikultureller Gesellschaft sprechen, wird unsere Sicht der Dinge, die wir von uns selbst haben, sich von der Sicht der anderen unterscheiden. Deren Sicht ist für uns oft falsch oder verzerrt, aber wir müssen trotzdem zumindest zur Kenntnis nehmen, dass andere uns eben nicht nach dem Inbegriff der Freiheit, der Toleranz und der Hilfsbereitschaft definieren, sondern manchmal sogar das Gegenteil von uns annehmen.

Den richtigen Dialog führen

Und genau darum ist der Dialog absolut wichtig. Ein Dialog, der nicht aus der Selbstgefälligkeit heraus geführt werden soll, auch kein Dialog, der alles und jedes relativiert und gleich behandelt. Aber ein Dialog, der mit Festigkeit einen eigenen Standpunkt vertritt. Der nicht im Aufzwingen unseres Standpunktes besteht. Und der weder in der militärischen noch in der ökonomischen Durchsetzungsweise unserer Interessen eine Wertegemeinschaft definiert. Genau das wäre völlig falsch.  
Strassburg, 4.10.2001