Ein historischer Moment

Der Auftritt des neuen jugoslwaischen Präsidenten Kostunica vor dem Europaparlament war ein grosser Augenblick, den sich noch vor drei oder vier Monaten niemand hätte vorstellen können.  
Heute mittag sprach der neue jugoslawische Präsident Kostunica vor dem Europäischen Parlament. Von allem an Anfang zeigte sich Kostunica unsicher und schüchtern und war auch während seiner gesamten Rede eher trocken und pragmatisch. Viele haben sich einen fulminanteren und emotionaleren Auftritt und insbesondere auch klarere Worte gegen die Verbrechen des früheren Regimes, der Armee und der Geheimdienste im eigenen Land, also in Serbien, aber natürlich auch gegen die Bosnier, Kroaten und Kosovo-Albaner, erwartet.

Blick in die Zukunft

Diese Erwartungen wurden enttäuscht: Kostunica hat in seiner Rede nichts davon auch nur annähernd klar und deutlich erwähnt. Ihm ging es vielmehr um die Zukunft, den Frieden, die europäischen Werte, die europäische Zusammenarbeit – in all diesen Punkten gab es klare Bekenntnisse. Wie auch hinsichtlich der Zusammenarbeit zwischen Albanern und Serben, mit dem Hinweis, dass es keinerlei Grund dafür gäbe, warum diese beiden Völker nicht in Frieden miteinander leben könnten. Insofern war Kostunicas Programm klar und deutlich. Aber in den Details, wie dieses Zusammenleben aussehen soll, gab es auch keine wirklich konkreten Aussagen.
Ich persönlich war nicht enttäuscht von der Rede Kostunicas. Ich hatte ihn ja bereits kennen- und durchaus schätzen gelernt. Und ich wusste auch, dass eine Entschuldigung für das, was geschehen ist, eine dramatische Distanzierung von all dem, was sein Vorgänger verbrochen hat, nicht Kostunicas Sache ist. Wenn man die Geschichte betrachtet und all das heranzieht, was immer wieder nach solchen Umbrüchen passiert ist, so zeigt sich, dass es sehr lange dauert, bis die Nachfolger dazu fähig sind, sich für das, was ihre Vorgänger gemacht haben, zu entschuldigen. Dennoch war Kostunicas Auftritt vor dem Europaparlament ein grosser Augenblick, den wir uns noch vor drei oder vier Monaten nicht hätten vorstellen können. Wir hätten nicht geglaubt, dass noch im heurigen Jahr, noch in diesem Herbst, ein jugoslawischer Präsident vor dem Europäischen Parlament eine Rede halten wird.

Enttäuschendes Wahlergebniss

Sicher, auch diese Schwalbe macht noch keinen Sommer: Das zeigen insbesondere die dieser Tage transportierten Ergebnisse der Wahlen in Bosnien-Herzegowina. Sie waren für viele von uns eine Enttäuschung. Nicht, dass die Sozialdemokratie als überethnisch organisierte Partei nicht gewonnen hat, hat uns desillusioniert – aber das Zulegen dieser Partei war insgesamt viel zu schwach, um wirklich grosse Freude aufkommen zu lassen.
Vor allem in der serbischen Republik und im kroatischen Kernland innerhalb der kroatisch-muslimischen Föderation haben die jeweiligen Nationalisten sehr starke Gewinne bzw. Erfolge erzielen können. Noch dazu wurde bei den Kroaten ein zwar illegales Referendum abgehalten, das die Mobilisierung für die Kroaten stärken und gewissermassen eine Veränderung von Dayton herbeiführen sollte – aber keine Veränderung im Sinne einer Stärkung des gemeinsamen, sondern eher der trennenden Faktoren.

Richtungsentscheidungen

In gewissem Sinn ist diese Wahl ein Rückschlag. Zwar kein solcher, der einen verzweifeln liesse, aber doch insofern, als man im Fortschritt zumindest etwas gehemmt ist und es neuer forcierter Anstrengungen bedarf, um ein multiethnisches, kooperatives gemeinsames Bosnien-Herzegowina herzustellen – etwas, das für die Stabilität in der Region ungemein wichtig ist.

Die Wahlen im Kosovo und in Bosnien-Herzegowina haben sogesehen eine leichte Verbesserung für die Stimme der Vernunft gebracht. Aber eine politisch eindeutige Richtungsentscheidung waren sie beide nicht. Für Jugoslawien hoffen wir allerdings, dass die Richtungsentscheidung von Anfang Oktober durch die Wahlen in Serbien am 23. Dezember bestätigt und verstärkt wird. 
Strassburg, 15.11.2000