Europäische Strategien für den Balkan

Zehn zentrale Thesen für die Zukunft am Balkan und welche Rolle die Europäische Union dabei spielen kann. 
Die vergangene Woche in Strassburg war einmal mehr durch verschiedene außenpolitische Themen gekennzeichnet. Algerien stand dabei ebenso auf der Tagesordnung wie die Türkei und der Balkan.
Darüber hinaus prägen sowohl die nach wie vor sehr zerbrechliche Situation in Mazedonien als auch neue Zwischenfälle im Kosovo derzeit die Auseinandersetzung im Europaparlament und in der Europäischen Union insgesamt. Auch die Resultate der Wahlen im Baskenland und in Italien signalisieren unerfreuliche Entwicklungen: als Sieger ging die nationalistische Rechte hervor, die Sozialdemokraten haben im Baskenland wie in Italien massiv an Stimmen verloren.

Bulgarien wählt

Aber auch am Rande der Europäischen Union gibt es nach wie vor einige Krisenherde, die uns sehr zu schaffen machen. Gestern Abend bin ich nach Sofia gekommen, um an einem Runden Tisch der Europäischen Parteien gemeinsam mit den verschiedenen linken Parteien Bulgariens teilzunehmen. Die Veranstaltung war zugleich als Unterstützung für die Wahlauseinandersetzungen gedacht, die dieser Tage in Bulgarien begonnen haben.
Es ist dies eine Wahl, die ursprünglich als Entscheidungswahl zwischen rechts und links, also den bestehenden Koalitionen der regierenden Vereinigten Demokratischen Kräfte (ODS) und der aus den ehemaligen Kommunisten hervorgegangenen oppositionellen Sozialisten (BSP) sowie der neuen, weitgehend vereinigten Linken unter dem neuen Vorsitzenden Parvanov stattfinden sollte.

Ex-König Simeon mischt mit

Inzwischen ist aber auch der bulgarische Ex-König Simeon II, Sohn des früheren Königs von Bulgarien Boris III, auf den Plan getreten. Er hatte lange Zeit im Ausland gelebt und spricht kaum, eher sehr gebrochen, Bulgarisch. Aber er mischt bei den im Juni stattfindenden Parlamentswahlen kräftig mit und verringert die Chance auf den Sieg einer grossen und endlich geeinten Linken um ein Vielfaches.
Beim schon erwähnten Runden Tisch in Sofia gestern und heute ging es vor allem um den Stabilitätspakt bzw. um die regionale Entwicklung auf dem Balkan. Das gab und gibt mir die Gelegenheit, einige mir wesentliche Punkte für die zukünftige europäische Politik am Balkan niederzuschreiben:

Stabilitätspakt

1.) Der Stabilitätspakt ist ein entscheidender Rahmen für die Integration des Balkans in die Internationale Gemeinschaft. Aufbauend auf den Grundsätzen des Friedens, der Demokratie, der Toleranz und der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung, die selbst wieder stark orientiert ist an der Marktwirtschaft. Die runden Tische, Diskussionsforen, aber auch die Organisationsaktivitten, lassen daher eine breite Fülle von Aktivitäten und Aktionen zu und sie bilden auch weiterhin eine Art Schirm über eine große Anzahl von Maßnahmen für die Stabilität am Balkan.

Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen

2.) Der Stabilitätspakt ist aber kein Ersatz für eine effektivere und auch gezieltere Politik der Europäischen Union. Die Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen mit den einzelnen Ländern der Region, immer versehen auch mit einem Hinweis, die regionale Kooperation zu stärken, sind die Basis für zukünftige Mitgliedschaften für die Länder in der Europäischen Union.
Aus diesem Grund sollte alle zwei bis drei Jahre, das erste Mal zwei Jahre nach der Ratifizierung jedes Abkommens überprüft werden, in wie weit diese Städte, mit denen wir ein Abkommen beschlossen haben, auch die Fähigkeit erlangt haben, Kandidaten für die Mitgliedschaft zu sein.
Durch diese regelmäßige Überprüfung und Berichterstattung in Bezug auf eine spätere Mitgliedschaft wird ein starker Anreiz geschaffen, die verschiedenen internen Reformen zu beschleunigen und auch die Bereitschaft zur regionalen Kooperation zu stärken.

Regionale Zusammenarbeit

3.) Starke politische und wirtschaftliche Verbindungen mit der Europäischen Union sind ein Element gesunder Entwicklungen auf dem Balkan. Das andere ist eine effektive und bedeutungsvolle regionale Zusammenarbeit. Die Wurzeln in dieser Zusammenarbeit müssen in den dringendsten Bedürfnissen der verschiedenen Länder liegen und sie sollten kurz und mittelfristig diesen Nutzen für die Region insgesamt stiften. Verschiedene persönliche Erfahrungen und Studien haben gezeigt, dass die Energie als „harter“ Faktor und der Kampf gegen die grenzüberschreitende Korruption wie Schmuggel etc., als eine Art „weiches“ Element sowohl dringende Bedürfnisse befriedigen könnten, als auch starke Hindernisse zur wirtschaftlichen Entwicklungen der Region beseitigen könnten.
Die Europäische Union sollte also auch im eigenen Interesse eine starke Unterstützung für die Kooperation auf diesen Gebieten geben und sie sollte helfen, dass die Balkan-Region auf diesen Gebieten Elemente der Vereinigung, des Zusammenführens und des Zusammenarbeitens finden können – auch bevor noch einige delikate politische Probleme, die verschiedene Länder betreffen, gelöst werden könnten.

Abbau von Grenzen

4.) Das Ziel der regionalen Kooperation auf dem Balkan ist es, die Grenzen weniger bedeutend und weniger relevant zu machen. So war es und so ist es ja auch in der Europäischen Union. Aber um zum Beispiel die kriminellen grenzüberschreitenden Aktivitäten zu bekämpfen, gegen illegale Migration vorzugehen und terroristische Aktivitäten zu bekämpfen und um zusätzliche Einnahmequellen für die einzelnen Länder zu schaffen, bedarf es derzeit noch klarer und auch verteidigbarer Grenzen.
Die Europäische Union muss daher helfen, dass die Staaten in dieser Region Grenzregime aufbauen können, um auch so einen Beitrag zu vernünftig starken und effektiven staatlichen Strukturen in der Region leisten zu können.

Stärkung der Struktur nationaler Staaten

5.) Die Notwendigkeit für regionale Kooperation und der stufenweisen Integration in die Europäische Union, diese Notwendigkeit macht die Stärkung der Struktur nationaler Staaten nicht hinfällig. Für den Moment ist die Alternative zu solchen gestärkten Strukturen nur die Dominanz privater Organisationen, die oft an oder jenseits der Grenze der legalen Strukturen agieren, vielfach auch in Verbindung mit verschiedenen ethnischen Gruppierungen in den einzelnen Staaten bzw. in der Region insgesamt.
Den Staat in dieser Region zu stärken heißt nicht notwendigerweise die Zentralisierung zu stärken. Sehr oft heißt es im Gegenteil einen Prozess der Dezentralisierung in Gang zu setzen und vor allem auch die lokale Autonomie von Gemeinden und Regionen zu stärken.

Abrüstung und militärische Kooperation

6.) Die regionale Zusammenarbeit von tragfähigen Staaten sollte auch den Sicherheitsaspekt betreffen. Nach dem zweiten Weltkrieg und auch heute sind in Westeuropa Abrüstung und militärische Kooperation ein wichtiger Beitrag zu Frieden, Stabilität und Sicherheit. Die Ausweitung der NATO-Mitgliedschaft in dieser Region ist kein tragfähiges Konzept für den Balkan. Die militärische Zusammenarbeit, auf der Basis eines niedrigen Niveaus der Bewaffnung kann, in Kombination mit der Hilfe von außerhalb, zum Beispiel durch eine rasche Eingreiftruppe der Europäischen Union, eine neue tragfähige Basis für verstärkte Sicherheit in der Region bilden.

Anerkennung der Minoritätenrechte

7.) Sicherheit und Stabilität in der Region hängen sehr stark von der Lösung der ethnischen Frage ab. Man müsste sogar sagen, der ethnischen Fragen. Denn es gibt verschiedene ethnische und Minderheitenangelegenheiten bzw. -probleme. Und es gibt auch verschiedene Wege und Möglichkeiten, Fortschritte und Lösungen auf diesem Gebiet zu finden, nicht nur ein Modell. Das erste und stärkste Prinzip bei der Lösung von Ungleichheit und Ungerechtigkeit auf dem Gebiet des Zusammenlebens verschiedener Ethnien sollte aber die Akzeptanz und Anerkennung der individuellen Grund- und Freiheitsrechte eines jeden Menschen sein, unabhängig von seiner ethnischen Herkunft und seiner Religion. Erst auf zweiter Ebene sollte die Anerkennung der Minoritätenrechte, also gewissermaßen der kollektiven Rechte vor allem auf dem kulturellen Feld, sein. Die Mehrheit sollte dabei die Notwendigkeit, der Minoritäten ihre Identität zu verteidigen und zu unterstützen, anerkennen.
Aber auch die Minderheiten sollten von ihrer Seite aus zur Integration in gemeinsame Gesellschaften und in die gemeinsamen Institutionen des Staates bereit sein. Separatismus, sowohl innerhalb der Staaten als auch als Trennung von Staaten, sollte weder dadurch gefördert werden, dass die Mehrheit die Rechte der Minderheiten missachtet, noch dadurch, dass extreme Gruppen der Minderheiten, zum Teil unter Anwendung von Gewalt, ihre politischen und persönlichen Zielsetzungen durchsetzen wollen.

Lösung der „albanischen Frage“

8.) Es besteht kein Zweifel, dass es eine „albanische Frage“ in der Region gibt. Die Tatsache, dass Menschen albanischer Herkunft nicht nur in Albanien selbst leben, sondern beträchtliche Teile auch im Kosovo, in Mazedonien und in anderen Gebieten Jugoslawiens, inklusive Montenegro, schafft oft die Angst vor einem „Grossalbanien“, das die bestehenden staatlichen Strukturen zerstören würde. Terroristische Aktivitäten der UCK und ähnlicher Organisationen haben diese Ängste noch geschürt und unterstützt.
Die albanischen Gemeinschaften, innerhalb und außerhalb der Region, müssen daher eine große Zurückhaltung und auch eine große Verantwortung zeigen, so wie das auch die gegenwärtige Regierung in Albanien selbst tut. Vor allem müssen sie kriminelle und terroristische Aktivitäten in den eigenen Reihen bekämpfen. Sie müssen Akzeptanz und Toleranz, im speziellen auch was die serbischen und andere Minderheitsgruppierungen innerhalb des Kosovo betrifft, zeigen und auch dadurch einen sichtbaren Beitrag zur Stabilität in der Region leisten.

Sonderfall Bosnien-Herzegowina

9.) Die Abkommen von Dayton haben den Krieg in Bosnien-Herzegowina beendet und einen neuen Start mit allerdings sehr delikaten und agilen verfassungsrechtlichen und politischen Strukturen geschaffen. Die gemeinsamen Institutionen Bosnien-Herzegowinas sind sehr schwach, und extreme Gruppen – insbesondere unter der serbischen und den kroatischen Gemeinschaften – missbrauchen diese schwachen Strukturen des Staates, um sie noch mehr zu schwächen und um Stärke gegenüber den Bosniaken zu gewinnen.
Die Internationale Gemeinschaft darf solche Tendenzen und Aktivitäten nicht akzeptieren. Sie muss in allen Fällen starke wirtschaftliche Institutionen herstellen und unterstützen. Vorerst innerhalb des Rahmens, den ihnen Dayton vorgibt. Langfristig müssen dann allerdings Wege gesucht werden, die Engpässe, die die Dayton-Strukturen schaffen, zu überwinden.

Regionale Konferenz

10.) Einseitige Änderungen der Grenzen können nicht akzeptiert werden. Sie würden Frieden und Stabilität in der Region gefährden und die ersten Elemente einer regionalen Zusammenarbeit zerstören. Jede Änderung von Grenzen hat Auswirkungen und Einfluss auf die Situation bei den Nachbarn. Änderung der Grenzen und des endgültigen Status der nicht entschiedenen Strukturen, insbesondere im Kosovo und bezüglich Montenegro, müssen verhandelt werden. Und sie müssen in einem gegenseitigen regionalen Diskurs und Verstehen gefunden werden.
Die Europäische Union sollte daher auch eine Führungsposition übernehmen und eine regionale Konferenz vorbereiten, die in angemessenem Zeitraum den endgültigen Status der regionalen Staatsstrukturen entscheiden könnte. Unterstützungen und Garantien durch die Europäische Union müssten hier ein entscheidendes Element dabei spielen, solche dauerhaften Lösungen zu finden.  
Sofia, 19.5.2001