Fünf Jahre Bewährung

Fünf Jahre sind eine realistische Zeitspanne um die Türkei so umzugestalten, dass Verhandlungen zwischen ihr und der Europäischen Union begonnen werden können. 
Ich sitze am Flughafen von Ankara und warte auf meine Maschine, die mich spät abends um 23.00 Uhr nach Istanbul bringt, von wo aus es morgen früh nach Brüssel weitergeht.
Zweieinhalb überwältigende Tage liegen hinter mir. Tage mit unzähligen Eindrücken,
Berichten und Schilderungen über dieses Land, seine politische Situation, seine Faszination und die großen Probleme, an denen manche Träume zerbrechen können.

Ein Bad der Gefühle

Vom Justizminister über viele Abgeordnete mit Engagement in Sachen Menschenrechte und Gefängnisrevolte bis zum Notstandsgouverneur und dem Bürgermeister von Dyiarbakir – zwei Persönlichkeiten, die sich in vielen Ansätzen diamentral gegenüberstehen – bis zu den vielen Menschen, die mich am Markt von Dyiarbakir umringt und sehr spontan aufgefordert haben, in der Türkei eine Veränderung hinsichtlich der Anerkennung der kurdischen Sprache vor allem im Fernsehen und in Zeitungen zu erwirken.
Es waren steife, schwierige Gespräche und es waren spontane, bewegende Momente. Der türkische Justizminister, den ich schon länger kenne und der hervorragend Deutsch spricht, schien irgendwie gebrochen zu sein. Er hat sich sehr bemüht, den Hungerstreik in den türkischen Gefängnissen friedlich beizulegen. Er ist davon überzeugt, dass die Verlegung der Häftlinge von kleinen Gefängnisräumen und Zellen in große Schlafsäle nicht richtig ist. Und natürlich muss man auch verstehen, dass der türkische Staat – so wie jeder andere Staat – Interesse daran hat, dass Gefängnisse in den Augen des Staates keine neue Form der Rekrutierung darstellen und kein Ort der kriminellen Organisationen sind.

Diktatorische Umerziehung statt Resozialisierung

Unterschiedliche Aussagen deuten allerdings darauf hin, dass die vorgesehenen Gefängnisse im türkischen System bei einer ziemlich durchgehenden Isolation wohl kaum der Resozialisierung dienen, sondern ein Umerziehen im diktatorischen Sinn anstreben – das wurde mir vielfach bestätigt, und genau das ist das Dilemma. Die Reform ist nicht vom Geist einer Individualisierung und Integration in ein normales Leben getragen. Dass das von den Gefangenen nicht akzeptiert wird und es dagegen Proteste gibt, ist nur verständlich.
Dennoch glaube und hoffe ich, dass der Hungerstreik bald abgebrochen wird. Weder für die Betroffenen noch für das Image der Türkei und für die Kooperation zwischen der Türkei und Europa ist es gut, wenn in den nächsten Tagen und Wochen mehrere Gefangene durch den Streik und das damit einhergehende Todesfasten sterben.
Ich habe mit zwei Abgeordneten, die sich intensiv mit diesen Fragen beschäftigen, Hasim Hasimi und Mehmet Bekaroglu, ausführliche Gespräche darüber geführt, wie man bei diesem Todeskreis bzw. der noch immer vorhandene Kluft zwischen dem Bestreben des Justizministers mehr Möglichkeiten für ein soziales Leben der Häftlinge schaffen und den Streikenden, die die Reformen unbedingt durchsetzen wollen, helfen kann.

Soziale Isolation

Was mir der Justizminister verschwiegen hat, mir aber die Abgeordneten mitteilten, ist der Umstand, dass die ihm vorgeschlagene Gestaltung des sozialen Lebens nicht bedeutet, dass die Gefangenen in den sozialen Räumen oder während der sportlichen Tätigkeit auch tatsächlich miteinander kommunizieren können. Aber es geht doch, wie gesagt, darum sicherzustellen, dass es einerseits nicht zu Bandenbildungen und zu einem neuen Aufstand kommen, dass aber andererseits ein Minimum an Kommunikation stattfinden kann und die Isolierung zumindest mehrere Stunden am Tag unterbrochen wird.
Ich habe auch die 15 EU-Botschafter von meiner dringenden Bitte informiert, in diese Richtung tätig zu sein und sie gebeten, auf informellem Weg in ihren Gesprächen darauf aufmerksam zu machen, wie sehr das Image und die Kooperation zwischen der Türkei und Europa leiden würden, wenn es zu weiteren Todesfällen in den Gefängnissen kommen würde – sei es durch eine militärische Intervention, wie sie im Dezember passiert ist, oder sei es durch das zu Tode Fasten mehrerer Gefangener.

Imagekorrektur

Ich habe natürlich auch mit Vertretern des Außenministeriums Gespräche geführt und der für Europa zuständige Staatssekretär hat auch zu einem Mittagessen mit mehreren Botschaftern, Abgeordneten und Vertretern aus der zivilen Gesellschaft eingeladen. Hier ging es darum, wie man die Reformen in der Türkei umsetzen kann, um das Land näher an Europa zu bringen. Aber es ging eben auch darum, wie es der Türkei gelingen kann, ihr Image zu verbessern bzw. die Antitürkenstimmung in Europa und vor allem im Europäischen Parlament zu ändern.
Ich habe in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam gemacht, dass es nicht primär um eine Änderung der Stimmung geht, sondern um die Änderung der Verhältnisse in der Türkei. Sicher gibt es auch Kräfte, die sich unabhängig von den tatsächlichen Entwicklungen prinzipiell negativ zu einer möglichen Mitgliedschaft bzw. generell zu einem engen Gesprächsklima zwischen Europa und der Türkei verhalten. Das betrifft vor allem jene, die die Armenienfrage hochspielen, was weder den Armeniern hier noch anderen Minderheiten zu gute kommt, sondern mit der innenpolitischen Situation in westlichen Ländern (siehe die Lobby von Armeniern in gewissen Wahlkreisen in Frankreich) zusammenhängt.

Überoptimismus

Bei einem Gespräch mit dem stellvertretenden Generalsekretär der EU-Behörde, die jüngst beim Premierminister bzw. beim Minister für EU-Angelegenheiten geschaffen wurde, hat sich schliesslich gezeigt, dass es viele Menschen gibt, die sehr konstruktiv und beharrlich daran arbeiten, ein nationales Programm zu erstellen, das den Weg für die Reformen in der Türkei festhält. Diese Menschen sind aber zum Teil überoptimistisch, wenn sie glauben, dass es innerhalb von zwei Jahren möglich sein wird, die Türkei so umzugestalten, dass tatsächlich Verhandlungen zwischen der Europäischen Union und der Türkei begonnen werden können.

Fünfjahresfrist

Meine Einschätzung dazu ist: Schon fünf Jahre wären ein Zeitraum, der völlig akzeptabel und ausreichend wäre. Dieser Einschätzung begegnete man aber mit dem Argument, besser eine enge Frist zu setzen, um nur ja nicht jenen Kräften, die gegen die EU sind, die Möglichkeit zu geben, die angestrebten Reformen noch weiter hinauszuzögern.
Das ist durchaus ein Argument, aber ich glaube trotzdem, dass fünf Jahre eine realistische Zeitspanne sind und dass wir uns in den nächsten Jahren auf eine extrem schwierige Situation einstellen müssen: auf schwierige Auseinandersetzungen zwischen EU-freundlichen und EU-feindlichen Kräften bzw. zwischen den reformfreundlichen und den reformfeindlichen Kräften in der Türkei. 
Ankara, 31.1.2001