Indien im Ruhrgebiet

Auf Besichtigungstour im größten deutschen, ja europäischen Binnenhafen in Duisburg.  
Die Besichtigung des größten deutschen, ja europäischen Binnenhafens hat mich nach Duisburg gebracht.
Ich habe bereits eine Woche hinter mir, die eine hohe Mobilität von mir verlangt hat. Montags gab es in Wien am späten Nachmittag eine Veranstaltung zum Thema Nummer eins dieser Wochen und Monate, zu „Österreich und die Europäischen Werte“ mit Emmy Werner, Michel Cullin und mit Peter Rantasa (eine Zusmmenfassung dieser Diskussion finden Sie unter „Aktuelles“ auf meiner Homepage bzw. in der ausgedruckten Version im Anhang dieser Briefe).

Heimatbekenntnisse

Noch am gleichen Abend flog ich nach Brüssel. Dort angekommen, stieg ich in ein Taxi mit einem Chauffeur arabischer Herkunft. Er fragte mich, aus welchem Land ich komme. Kurz zögerte ich mit der Antwort, um mich aber dann doch zu meiner Heimat zu bekennen.
„Welcome, welcome“, war seine besonders freundliche Antwort. Der Taxifahrer erzählte mir auch, dass vor wenigen Tagen etwas besonders Trauriges passiert war. Er chauffierte eine Frau, die sich mehrere Minuten hindurch standhaft weigerte, seine Frage, aus welchem Land sie käme, zu beantworten. Erst nach fünf Minuten nahm sie sich Mut und bekannte sich zu Österreich als ihrem Heimatland. Der Taxifahrer meinte, es sei doch traurig, wenn es einem Menschen so ergeht. Man müsse doch klar zwischen einer Regierung und den politischen Verhältnissen – schließlich hätte der Flams-Block in Belgien ja auch starke Zustimmung gefunden – und den einzelnen Bürgern eines Landes unterscheiden. Mit Dankbarkeit und Zustimmung nahm ich seine Erklärung zur Kenntnis und begab mich in meine Brüsseler Wohnung.
Am nächsten Tag gab es eine Abstimmung im außenpolitischen Ausschuß zu einem Bericht über den Stabilitätspakt. Und da schließlich Südosteuropa jene Region ist, für die ich Zuständigkeiten in der Europäischen Union bzw. im Europäischen Parlament habe, habe ich mich verpflichtet gefühlt, an dieser Abstimmung teilzunehmen.

EU-Erweiterung mit Augenmaß

Im Anschluß daran gab es eine interessante Diskussion mit dem Generaldirektor, der für die Erweiterungsverhandlungen zuständig ist. Landabouru, ein Spanier, der früher Generaldirektor für Regionalfragen in der EU-Kommission war, hat sehr klar und deutlich und aus meiner Sicht auch richtig festgestellt, daß wir keinerlei Interesse daran haben können, die Gespräche und Verhandlungen mit den osteuropäischen Nachbarn und Zypern zu verzögern, daß es aber zum jetzigen Zeitpunkt unsinnig wäre, Daten zu nennen, bis wann die konkreten Verhandlungen abgeschlossen sein können.
Viele Probleme warten noch auf uns. Mit Beharrlichkeit und Geduld muß über all diese Fragen gesprochen werden. Und man darf sich auch nicht über die – verständliche – Ungeduld der Erweiterungskandidaten zu einem übereilten Vorgehen drängen lassen.
Nachmittags ging es wieder zurück nach Wien. Ich hatte einer besonders aktiven Sektion der von mir geführten Meidlinger SPÖ zugesagt, bei ihrer Jahreskonferenz zu sprechen. Natürlich ist es etwas mühsam, am Montag nach Brüssel, am Dienstag nach Wien und am Mittwoch zeitig in der Früh wieder nach Brüssel zu fliegen, aber manchmal geht es nicht anders – das ist Teil meiner Arbeit und Funktion.

Insiderinformationen über den Nah-Ost-Friedensprozeß

Vor der Diskussion in der SPÖ Meidling habe ich aber noch die Chance wahrgenommen, mich mit Patrick Seal, der vom Bruno Kreisky Forum zu einem Referat nach Wien eingeladen worden war, zu treffen und zu unterhalten. Patrick Seal ist einer der wichtigsten Experten des Nahen Ostens – er hat Bücher über den Nahen Osten geschrieben, unzählige Artikel verfaßt und ist ein begehrter Interviewpartner. Seal hat außerdem besonders enge Beziehungen zu Präsident Assad und dessen politischer Umgebung.
Da der Friedensprozeß im Nahen Osten, insbesondere die Gespräche zwischen Israel und Syrien, in ein besonderes Stadium getreten sind, war es spannend, mit Seal zu sprechen und die gesamte Komplexität dieses Friedensprozesses aus der Sicht eines Insiders geschildert zu bekommen. Leicht wird es nicht sein, die Jahre und Jahrzehnte der Feindseligkeiten und das Unverständnis, das auf der jeweils anderen Seite herrscht, zu überwinden und Frieden zu schaffen. Aber Menschen wie Patrick Seal können als Botschafter des guten Willens durchaus ihren Beitrag leisten, die Kluft zwischen den ehemaligen Feinden zu überwinden. Wenngleich daraus nicht Freundschaften entstehen, so könnte es doch zu verträglichen Nachbar- und Partnerschaften kommen.

Ein indisches Stahlwerk im Herzen der europäischen Stahlindustrie

Nach einem weiteren Aufenthalt in Brüssel ging es gestern nachmittag nach Duisburg. Die Besichtigung des Hafens war eindrucksvoll, wenngleich man sich vielleicht ein größeres Ausmaß an Aktivitäten und Bewegung erwartet. Nach wie vor gibt es eine große Handelsbewegung in Sachen Massengüter – Kohle, Stahl, Schrott – wobei interessanterweise immer mehr europäische Kohle, vor allem deutsche Kohle, durch außereuropäische Importkohle ersetzt wird. Sie ist qualitativ eindeutig besser und wesentlich billiger.
Das zeigt die konkreten Probleme vieler europäischen Rohstoffe und der Industrie insgesamt. Symbol dafür ist auch das unmittelbar an das Hafengebiet angrenzende Stahlwerk, das heute nicht mehr Thyssen gehört, sondern einer indischen Firma, die die Vorprodukte, die nicht so hohe Anforderung erfüllen müssen, vor allem aus Italien importiert und hier verarbeitet.
Ein indisches Stahlwerk inmitten der Kernzone der europäischen Stahlindustrie im Ruhrgebiet ist ein sehr aussagekräftiges Symbol für die Verschiebung der industrie- und wirtschaftspolitischen Schwergewichte. Dass heute gleichzeitig in Deutschland und nicht nur dort darüber diskutiert wird, indische Computerexperten nach Deutschland zu importieren, ergänzt dieses Bild und macht deutlich, daß nicht nur bei den Rohstoffen, sondern auch bei intelligenten Produkten und der Intelligenz selbst der Import aus ärmeren, sogenannten unterentwickelten Ländern, auf der Tagesordnung steht und letztendlich unvermeidlich ist.

Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben

Der überaus nette und hilfsbereite Manager, der mich durch den Hafen führte, beklagte sich auch über die mangelnde Beweglichkeit und Konkurrenzfähigkeit der Deutschen Bahnen. Für ihn war klar, dass die Bundesbahn aufgrund ihrer bürokratischen Strukturen und der hohen Preise immer mehr an Konkurrenzfähigkeit verlieren wird. Und wenn es auf europäischer Ebene eine Situation gibt, in der die Konkurrenz erzwungen werden kann, dann wird die Deutsche Bahn darunter leiden, dass sie über viele Jahre lang Reformen versäumt hat.
Der neue Chef der Deutschen Bundesbahn versucht einiges zu korrigieren: Stillegung von Nebenstrecken, Privatisierungen und Kündigungen sind angesagt. Das wieder hat die Eisenbahner zu Streiks motiviert und am Bahnhof von Essen kurz vor Duisburg erlebte ich die ersten Streiks, die dem neuen Generaldirektor gegengehalten wurden.
Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben – meinte Gorbatschow. Dieser bekannt gewordene Ausspruch gilt sicher auch für viele europäische Eisenbahnen. Ich fühle mich natürlich solidarisch mit den Eisenbahnern und den Gewerkschaften, aber wir kommen nicht umhin, die Wttbewerbsfähigkeit der Eisenbahnen zu erhöhen. Denn nur dadurch kann der Verkehr von der Straße auf die Schiene gebracht werden kann, und nur dadurch kann auch die Konkurrenzfähigkeit der europäischen Wirtschaft insgesamt gesteigert werden. 
Duisburg, 24.3.2000