Nizza-Nachlese

Der Gipfel von Nizza hat nicht das gebracht, was er bringen hätte müssen, vor allem in Hinblick auf die Festigung der Union und die Vorbereitung der Erweiterung.  
Heute Mittag stimmten wir über eine Resolution ab, die sich mit Nizza beschäftigt. Über diese Resolution wurde lange diskutiert, und dennoch beinhaltet sie keine klare Aussage, wie wir das Resultat von Nizza, insbesondere die Regierungskonferenz, einschätzen – und das mit gutem Grund.

Herbe Enttäschungen

Emotional sind viele von uns, wahrscheinlich die Mehrheit, extrem enttäuscht. Nizza hat auch aus meiner Sicht nicht das gebracht, was es bringen hätte müssen, vor allem in Hinblick auf die Festigung der Union und die Vorbereitung der Erweiterung. Das Klima, die Ausstrahlung von Nizza insgesamt waren nicht positiv. Es wurde lange gestritten. Es sind Vorschläge gemacht worden, die vor allem für die kleinen Mitgliedsländer absurd waren. Es ist im Falle der Mehrheitsentscheidung zwar einiges von der Einstimmigkeit in den Bereich der Mehrheitsentscheidung hinüber gebracht worden, allerdings wurde ein viel komplizierteres Modell der Mehrheitsentscheidung eingeführt.
Das heißt, es ist noch viel schwieriger geworden, überhaupt zu einer Mehrheitsentscheidung zu kommen. Und es gibt eine Reihe von Mehrheitsentscheidungen, jedenfalls solche, die nicht gesetzgeberischer Natur sind, bei denen das Europäische Parlament nicht mitreden kann. Obwohl wir immer darauf beharrt haben, dass bei allen Mehrheitsentscheidungen auch eine Mitsprache des Parlaments notwendig ist.
Ich bedaure dieses Ergebnis von Nizza zutiefst. Wie sollen nach einer solchen „Performance“ junge Menschen auf unserem Kontinent für diese Art von Europa begeistert sein? Ja, wie soll ich als überzeugter Europäer dieses Ergebnis mit Überzeugung, Freude und Begeisterung vermitteln? Ich kann das nicht. Ich kann es nicht und möchte es auch nicht. Aus meiner Sicht gibt es nur zwei Wege: Entweder man lehnt das Ergebnis überhaupt ab und setzt damit ein deutliches Signal oder man einigt sich darauf, wie ich es in die Debatte eingebracht habe, jedenfalls für die nächste Regierungskonferenz eine klare und eindeutige Zusage des Rates zu bekommen, dass sich die zukünftige Regierungskonferenz nach dem Modell des Konvents, also einer Beratung durch Parlamentarier, orientiert.

Konvent statt Regierungskonferenz

Wenn man einen direkten Vergleich zwischen dem Konvent der Grundrechtscharta und dem Rat von Nizza bzw. der Regierungskonferenz aufstellt, dann ist klar, dass der Konvent produktiver war und deshalb rascher Ergebnisse gebracht hat. Ich will nicht unfair sein. Die Regierungskonferenz ist um ein Vielfaches komplizierter, es spielen mehr nationale Interessen, Interessen der großen und der kleinen Staaten etc. eine größere Rolle, als im Falle der Grundrechtscharta. Aber auch die Grundrechtscharta ist ja schlußendlich bei der Regierungskonferenz nicht so behandelt worden, dass sie in den Vertrag aufgenommen wurde. Auch sie ist nur in der vom Konvent beschlossenen Form deklariert worden, und das auch nicht unbedingt in einer sehr feierlichen, klaren und eindeutigen Form.

Teilkoalition mit der Kommission

Eines steht nach Nizza eindeutig fest: Die Kommission und auch das Europäische Parlament sind nicht die grossen Gewinner dieser Regierungskonferenz. Die kleinen Zugewinne der beiden können nicht darüber hinwegtäuschen, dass letztendlich diese beiden Positionen bei der Regierungskonferenz und vor allem bei der Abschlusssitzung in Nizza eine sehr untergeordnete Rolle gespielt haben. Das war auch der Eindruck der Kommissare, mit denen wir uns traditioneller Weise am Dienstag Abend nach der Fraktionssitzung um etwa halb zehn zu einem Abendessen getroffen haben.
Auch sie waren bitter enttäuscht und dem Ergebnis gegenüber kritisch eingestellt. Sie haben zu einer Koalition der Kommission mit dem Parlament aufgerufen, um ein stärkeres Gegenwicht zum Rat zu stellen. Das wird nicht leicht sein, denn natürlich gibt es auch manche Gegensätze zwischen Kommission und Parlament, und wir können uns gerade als Gesetzgebungs- und Kontrollorgan nicht blindlings in eine Allianz mit der Kommission begeben.

Europa muss Projekt der Demokratie bleiben

Fest steht: Diejenigen, die dieses Europa gefährden und den Integrationsprozess schwächen, sind unbestritten die Vertreter der Regierungen im Europäischen Rat. Deshalb müssen wir sicherlich in manchen Fragen eine eindeutige Koalition mit der Kommission bilden, um jene beiden Institutionen, die ein Gesamteuropa im Auge haben, auch wieder stärker in die Debatte einzubringen. Und deshalb auch meine Idee, dass die zukünftige Gestaltung dieses Europas vor allem auch von den Parlamentariern, den nationalen und europäischen Parlamentariern, stärker geprägt wird und nicht den Regierungskanzleien, den Regierungschefs und einigen Europaministern überlassen werden darf. Oder, noch schlimmer, nur einigen Diplomaten, die sicher gute Arbeit leisten, die aber nicht demokratisch legitimiert sind, diese Arbeit alleine zu leisten.
Europa muss ein Projekt der Demokratie sein, sonst wird es entweder ein Projekt der Diplomatie oder der Technokratie. Das sind die Alternativen, für die sich ein Europaparlamentarier aussprechen muss.
Wir haben, wie bereits erwähnt, im Parlament in dieser Woche nur eine erste kritische Beurteilung zu Nizza vorgenommen und das Ergebnis von Nizza jetzt dem konstitutionellen Ausschuss zugewiesen, der überprüfen soll, inwieweit das Ergebnis tragbar ist und auch inwieweit dieses Ergebnis eigentlich der klaren Deklaration, die auch in Nizza gemacht worden ist – nämlich die Erweiterung in einer ersten Runde bis 2004 abzuschliessen -, widerspricht. Gerade diese Punkte in der Resolution waren auch innerhalb der Fraktion umstritten, da einige denken, das sei zu erweiterungsfeindlich. Viele haben nicht verstanden oder wollten nicht verstehen, dass die Erweiterung nicht nur dann Fortschritte macht, wenn man positive Signale im Sinne von Erklärungen gibt, sondern auch eng nach wie vor mit einer reform der Institutionen zusammenhängt.

Erweiterung und Institutionenreform forcieren

Natürlich gibt es solche, die diesen Zusammenhang nicht herstellen wollen. Die Erweiterung ist auf jeden Fall positiv, und wenn sie vielleicht dazu beiträgt, die Union wieder schwächer zu machen, dann um so positiver. Darum muss man aus meiner Sicht darauf beharren, beides einzufordern: die Erweiterung und eine Stärkung der Institutionen. Wir können uns nicht damit zufrieden geben, uns bloss auf eine in Nizza beschlossene Deklaration für die Erweiterung zu berufen. Die Frage, inwieweit durch die mangelnde Reform der Institutionen insbesondere durch die sehr zögerliche, zaghafte und geringe Überführung von Entscheidungen aus der Einstimmigkeit in die Mehrheit, die Entscheidungsfähigkeit der jetzigen, aber auch vor allem der erweiterten Union geschwächt wurde, ist eine ganz entscheidende Frage, die wir nach wie vor beraten und behandeln müssen!  
Strassburg, 14.12.2000