Polen ante Portas

Für Polen geht es nicht um eine symbolische Rückkehr nach Europa, sondern um den Eintritt in eine sich entwickelnde neue Gemeinschaft. 
Heute ist mein dritter Tag in Polen. Sonntags kam ich zu Mittag nach Warschau, gemeinsam mit meinem früheren Mitarbeiter und Freund Lothar Fischmann. Andreas Stadler, der Direktor des Österreichischen Kulturinstituts in Warschau, holte uns vom Flughafen ab.
Eine „politische“ Stadtbesichtigung folgte unserer Ankunft. Die verschiedenen Denk- und Mahnmale, insbesondere an die schreckliche und unvorstellbare Zeit des Zweiten Weltkriegs, haben mich schon bei meinem ersten Besuch in Warschau beeindruckt.
Nochmals ging es zum Ghetto, in die Reste des Ghettogefägnisses, wo es eine kleine Ausstellung gibt, und schließlich zu jenem Mahnmal, vor dem Willy Brandt seinen berühmten und Geschichte machenden Kniefall vollbrachte. Und es ging zu den Denkmalen, die an den Warschauer Aufstand von 1944 erinnern und natürlich in die wiedererrichtete Altstadt, die ja letztendlich auch ein Mahnmal an die Zerstörung der Stadt ist.

Regierungskrise

Abends gab es einen ersten politischen Termin. Lena Kolarska-Bobinska, die Direktorin des „Instituts für öffentliche Angelegenheiten“, gab mir zu Ehren ein Abendessen, das über Vermittlung von Kristof Michalski, dem Leiter des „Instituts für die Wissenschaft vom Menschen“ in Wien zu Stande gekommen war. An dem Essen nahmen Jan Kulakowski, der Chefverhandler der polnischen Regierung mit der EU, Katarzyna Skorzynska, stellvertretende Ministerin jenes Amtes, das für die interne Arbeit in Zusammenhang mit der Europäischen Union betraut ist sowie Abgeordnete aus verschiedenen politischen Gruppierungen teil.
Es entwickelte sich eine spannende Diskussion, nicht zuletzt deshalb, weil derzeit in Polen eine große Regierungskrise herrscht. Ministerpräsident Busek hat aus juristisch zweifelhaften Überlegungen den Stadtpräsidenten von Warschau ab- und einen Regierungskommissar eingesetzt, was seinen Koalitionspartner, die so genannte Freiheitsunion, sehr erregt hat. Hinzu kommt, dass die ABS, also die Sammelbewegung verschiedener Nachfolger der Solidarnosc, die Gruppierung, auf die sich Busek primär stützt, immer wieder aus den Koalitionsvereinbarungen ausschert bzw. ein Teil der Abgeordneten die Koaltionsvereinbarungen nicht mitträgt.
Diese Disziplinlosigkeit auf Seiten der ABS macht der Regierung das Leben sehr schwer und insbesondere die Freiheitsunion ist keineswegs glücklich über die permanenten Reiberen. Dass diese Auseinandersetzungen den Vertreter der SLD, also der Sozialdemokraten, an unserem Tisch gefreut hat, ist verständlich. Worüber sich die Sozialdemokraten allerdings noch nicht im Klaren sind ist die Frage, ob sie eine Neuwahl noch in diesem Jahr bevorzugen würden.

Der Präsidentschaftskandidat

Heuer steht ja die Wahl des Präsidenten an, und dieser stammte bisher aus den Reihen der Sozialdemokraten und möchte natürlich auch wieder kandidieren. Kwasniewski ist ein über die Grenzen des sozialdemokratischen Lagers hinaus akzeptierter, geschätzter und unterstützter Präsident, auch wenn seine Kandidatur mit Hass und sehr viel Kritik übersät worden ist, da er in der letzten, wenngleich reformorientierten Regierung unter Ministerpräsident Rakowski Jugendminister gewesen ist.
Kwasniewski hat aber nicht zuletzt auch über Anerkennung und Unterstützung durch den Papst bei dessen letztem Aufenthalt in Polen hohes Ansehen erlangt. Er möchte allerdings, wenn möglich, schon im ersten Wahlgang gewählt werden und will nicht, dass sein Wahlkampf durch Wahlauseinandersetzungen hinsichtlich des Parlaments gestört wird.

Kritik an der EU

Es ging bei unserem Gespräch in erster Linie um den EU-Beitritt Polens, und es wurde dabei teils moderat, teils aber auch sehr heftig Kritik daran geübt, dass die Europäische Union zu wenig offensiv den Beitritt befürworte bzw. betreibe und zu viel von Polen verlange. Einer der Anwesenden meinte, in Europa ginge es vielmehr um Ideen als um die Erfüllung des aquis communitaire. Dass es in Europa um große Ideen geht, ist richtig. Aber die Erfüllung des aquis communitaire, also des Gemeinschaftsrechtes, ist natürlich eine Voraussetzung für den Beitritt unsrer Nachbarn – das ist in den so genannten Kopenhagener Kriterien festgelegt, und daran führt kein Weg vorbei.
Ich habe bei diesem wie bei vielen anderen Gesprächen den Eindruck bekommen, dass mehr noch als in anderen Erweiterungsländern die polnischen Intellektuellen und politischen Vertreter davon ausgehen, dass es ein klares und eindeutiges moralisches Recht gibt, der Europäischen Union beizutreten. Man gesteht zwar zu, dass das auch ein politischer Schritt ist, dass man sicherlich bestimmte Angleichungen im Rechts-, Wirtschafts- und Sozialbereich vornehmen muss, erachtet diese Angleichungen aber eigentlich als zweitrangig und glaubt, dass es primär darum geht, so rasch wie möglich den Beitritt zu vollziehen.
Das muss natürlich bei den Vertretern der Europäischen Union auf Widerspruch stossen, und es ist eine mühsame Arbeit, hier zu argumentieren, dass die EU nicht wie die NATO ist, bei der man ein paar Bedingungen erfüllt und dann sofort beitritt, sondern dass es sich um ein kompliziertes und komplexes Gebäude handelt, in das man eintritt.

Beteiligung am Entscheidungsfindungsprozess

Meiner Ansicht nach geht es außerdem auch darum, dass Polen uns und sich selbst klar macht, in welche Richtung es die Europäische Union weiterentwickelt sehen möchte. Wir sind ja gerade auch im Zusammenhang mit den Vorschlägen von Jacques Delors und Joschka Fischer dabei, die Linien und die Grundrichtung zu entwerfen, zu diskutieren und letztendlich einen Grundkonsens darüber zu finden, wie sich die Union weiterentwickeln soll. Und da ist es natürlich notwendig, von den neuen Partnern zu erfahren, ob sie mit diesem Grundkonsens einverstanden sind oder ob sie eine ganz andere Auffassung vertreten, die mit diesen Grundlinien nur schwer vereinbar ist.
Es ist andererseits aber auch verständlich, dass wir unsere eigene Position innerhalb der Europäischen Union in ihren Grundsätzen festlegen wollen, sodass wir, aber auch unsere zukünftigen Mitglieder wissen, wohin die Reise geht und sich alle darauf einstellen können.

Die Rolle Österreichs

In unserem Gespräch ging es natürlich auch um Österreich und seine Haltung gegenüber der Erweiterung, insbesondere in Zusammenhang mit der Freizügigkeit der Arbeitskräfte. In diesem Zusammenhang habe ich versucht klar zu machen, dass ein stärkerer Dialog notwendig ist. Ein wirklicher Dialog, bei dem wir uns in dieser spezifischen und heiklen Frage der Freizügigkeit auf dem Arbeitsmarkt annähern können.
Es wird in diesem Punkt notwendig sein, ein Gespräch zu führen und nicht nur einfach die Position des jeweils anderen abzulehnen. So wird bei uns in Österreich vielfach übertrieben, dass es große Migrationsbewegungen geben könne. Und in Polen wird das Problem oftmals ignoriert, und das ist aus meiner Sicht genauso wenig produktiv.
Ich glaube, dass es darauf ankommt, gerade zwischen Arbeitsmarktexperten schon jetzt den Dialog zu führen, eine Arbeitsmarktbeobachtung durchzuführen und Mechanismen zu entwerfen, wie man auf mögliche potenzielle Probleme reagieren kann. Politik ist ja dazu da, auf mögliche Probleme zu reagieren und nicht darauf zu warten, dass Probleme bereits da sind und sich erst dann eine Lösung zu überlegen.

Szenarien

Prinzipiell gibt es zwei Herangehensweisen: Entweder geht man davon aus, dass es tatsächlich zu Migrationsströmen kommt und entwirft Quoten für die Zuwanderung, vor allem natürlich in einer Übergangszeit. Man kann diese Restriktionen aufheben, wenn sich abzeichnet, dass es nicht zum erwarteten Andrang auf dem europäischen, insbesondere auf dem österreichischen Arbeitsmarkt kommt.
Oder man wählt den anderen Weg, indem man die Entwicklung des Prozesses abwartet und, falls es zu einem größeren Andrang kommt, den man bereits vorher quantitativ und qualitativ definieren kann, setzt man die schon vorher vereinbarten Mechanismen, Quotenregelungen, etc. in Gang und leitet so die entsprechenden Restriktionen ein.

Sinnvoll ist daher nicht der Streit darüber, ob es zu schockartigen Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt kommen wird oder nicht – denn das ist kaum vorhersehbar. Sinnvoll ist vielmehr die Frage, welche Mechanismen zu entwerfen sind, um von vornherein schockartige Bewegungen zu vermeiden bzw. um unvertretbare Störungen auf dem Arbeitsmarkt zu verhindern.

Kampf der Korruption

Am zweiten Tag meines Polen-Besuches ging es zu einem kurzen Höflichkeitsbesuch und Meinungsaustausch an die Österreichische Botschaft und danach zum ehemaligen Ministerpräsidenten Wlodzimierz Cimoszewicz. Er war der letzte Ministerpräsident, den die sozialdemokratische Partei SLD gestellt hat.
Auch mit ihm gab es ein langes Gespräch über die Vorbereitung Polens auf die Erweiterung der Europäischen Union, über die Situation in Österreich, und vor allem auch über den Kampf gegen die Korruption in Polen.
Cimoszewicz ist sehr aktiv, um die Korruption, die aus seiner Sicht auch mit der Tätigkeit der Regierung, vor allem, wie er es bezeichnete, den sehr eigenartigen Privatisierungen, in Zusammenhang steht. Es ist sicher eine gute und wichtige Aufgabe, die Cimoszewicz hier übernommen hat, um diese Wirtschaft, die wie so oft im Übergang der Fall, von Korruption bedroht ist – durch alte kommunistische Funktionäre ebens wie durch jene, die sich plötzlich, und zwar rasch und illegal, Reichtum erlangen wollen. Und es ist ein wesentlicher Beitrag auch in Richtung eines EU-Beitritts Polens, wenn hier eine klare und eindeutige Haltung seitens der Regierungen und der Politiker eingenommen wird.

Aktivere Rolle im Beitrittsprozess

Mittags gab es wieder einen „Roundtable“, diesmal vor allem mit Vertretern der Universitäten. Slawomir Wiatr, Direktor einer den Sozialdemokraten nahe stehenden Stiftung – er selbst ist ein Freund und Mitstreiter von Präsident Kwasniewski – meinte dabei: „Wir dürfen nicht vergessen, dass es nach der Wende zwei wesentliche Aussagen in Polen gab: 1.) Wir regieren wieder das eigene Haus. 2.) Wir kehren zurück nach Europa“.
Ich entgegnete darauf, dass es durchaus verständlich sei, diese Haltung zu haben, dass allerdings zum einen in Zeiten der Globalisierung niemand das eigene Haus regieren könne und dass zum anderen die Aussage „Wir kehren zurück nach Europa“ deshalb zweifelhaft sei, weil das heutige Europa in Form der Europäischen Union etwas ist, in das man nicht zurückkehren kann, weil es dieses Europa bisher nie gegeben hat.
Daher muss Polen sich darüber im Klaren sein, dass es nicht einfach um eine symbolische Rückkehr nach Europa geht – Polen ist längst wieder symbolischer Teil Europas -, sondern dass es um den Eintritt in eine sich entwickelnde neue Gemeinschaft geht, bei dem wir uns zugegebenermaßen von Polen sehr viel erwarten. Ich selbst stelle mir immer wieder die Frage, warum Polen nicht mehr herausstreicht, was es selbst zu diesem Europa beitragen möchte – etwa so, wie Österreich vor dem Beitritt betont hat, die Union ökologischer gestalten, die Fragen der Umwelt- oder der Lebensmittelsicherheit vermehrt einbringen und etwa Konsumentenrechte besser geregelt sehen zu wollen.

Zynismen

Zynisch schilderte darauf ein anderer Teilnehmer an diesem Gespräch, wie er seinen Studenten immer erkläre, dass Polen drei Elemente in die Europäische Union einbringt: den grünen Pfeil zum Rechtsabbiegen, die Untertitel im Kino, weil es immer nur Filme in Originalsprachen gibt und das weitaus früher als im übrigen Europa angesetzte Ende des Sommersemesters. Vielmehr habe Polen aus seiner Sicht nicht in die EU einzubringen.
Als ich nochmals nachhakte und fragte, warum er dann eigentlich einen Beitritt zur EU befürworte, meinte er trocken: „In Europa zu sein, ist einfach ein Zeichen der Normalität. Wer am europäischen Kontinent nicht Mitglied der EU sein möchte, ist nicht `normal`“. Diese sehr pragmatische und trockene Ansicht wurde von anderen in Frage gestellt und man wies insbesondere auf die besonderen Beziehungen zu Russland, zu Weißrussland und der Ukraine hin, die Polen eine besondere Rolle in der EU geben könnten.
Aber für mich war es trotzdem spannend zu sehen, dass in diesem Land, das so viele Intellektuelle, so viel Kultur, so viel spannende Geschichte und Gegenwart aufzuweisen hat, die Frage Europa nicht tiefer und systematischer behandelt wird, sondern dass es letztendlich um die Bestätigung eines nationalen Wertes, eines Nationalstolzes und einer bestimmten Normalität geht, was sicher auch anerkennenswert und wichtig ist, mir aber zu wenig in die Richtung eines europäischen Engagements zu gehen scheint.

Problemkind Landwirtschaft

Nachmittags gab es neben einem Besuch am Österreichischen Kulturinstituts, das hier sehr aktiv ist, ein Informationstreffen mit dem Leiter der Delegation der Europäischen Kommission in Polen.
Ganz eindeutig wurde bei dieser Gelegenheit darauf hingewiesen, dass Polen in der Erfüllung des aquis communitaire große Mängel aufweist, dass von den versprochenen neuen Gesetzen und Regelungen zur Anpassung an die Europäische Union nur ein kleiner Teil erfüllt worden ist und dass man insbesondere bei der Strukturreform der Landwirtschaft nur wenig vorangekommen ist – und gerade die Landwirtschaft ist bekanntermaßen ein großes Problem.
Zwar meinten auch die Vertreter der Europäischen Kommission, dass die Zahl der 27-28% der Bevölkerung, die von der Landwirtschaft abhängig sind, übertrieben ist, de facto sind es wahrscheinlich nur zwischen 15-20% – aber dennoch ist es eine hohe Zahl. Und genau das wird auch noch verzerrt durch die Tatsache, dass es einige große, sehr effiziente landwirtschaftliche Unternehmungen – zum Teil mit Auslandskapital betrieben – gibt, denen viele kleine Bauern gegenüberstehen, denen es heute weitaus schlechter geht als in der kommunistischen Zeit. Sie sind enttäuscht von der Regierung, zweifeln aber auch sehr am Wunsch der Regierung, der Europäischen Union beizutreten. Sie erwarten sich dadurch eine weitere Verschlechterung ihrer Lage.
Aber die Regierung unternimmt zu wenig, um neue Arbeitsplätze außerhalb der Landwirtschaft zu schaffen, um die Kinder und Jugendlichen der Bauern besser zu erziehen und ihnen dadurch bessere Chancen zu eröffnen, Arbeitsplätze auch außerhalb der Landwirtschaft zu finden. So steht dem eifrigen und vehementen Wunsch der Polen, möglichst rasch in die EU zu kommen eine eher enttäuschende und ernüchternde Bilanz der tatsächlichen Maßnahmen, um der Europäischen Union näher zu kommen und die Bedingungen des Beitritts zu erfüllen, gegenüber.

Spiel mit offenen Karten

Das war auch ein Punkt, den ich ins Gespräch am Abend mit Janos Reiter, dem ehemaligen polnischen Botschafter in der Europäischen Union und außenpolitischen Experten, der sich sehr intensiv mit den Beziehungen Polens zur EU beschäftigt, eingebracht habe.
Ich habe dabei meine Kritik an der Vorbereitung Polens nicht deshalb so herausgestrichen, weil ich ihn und die anderen Teilnehmer des Roundtables ärgern wollte, sondern weil zum Teil doch mit einer gewissen Vehemenz wieder einmal Kritik geübt wurde an der mangelnden Bereitschaft der EU, Polen rasch aufzunehmen. Die Vorschläge von Delors und teilweise auch von Joschka Fischer wurden als zu sehr auf die alte Europäische Union fixiert kritisiert.
Ich konnte meinen Gesprächspartnern nicht ganz Unrecht geben, dass wir in den Überlegungen über die zukünftige Entwicklung der EU oft zu wenig auf die neuen Länder Rücksicht nehmen bzw. sie kaum einladen, in diesen Dialog einzutreten. Aber ich musste darauf beharren, dass letztendlich die Mitglieder der bestehenden EU grundsätzliche Entscheidungen treffen müssen und dass es für beide Seiten wichtig ist zu wissen, worauf man sich einlässt und nicht von vornherein sie in Unwissenheit darüber zu lassen und erst nachher mit dem Streit über die zukünftige Entwicklung der EU zu beginnen.

Neutralität der Gesinnung

Natürlich war auch bei diesem Gespräch Österreich wieder ein Thema. Kritisch wurde gefragt, wie sich die Regierung entwickelt und was von der FPÖ zu erwarten ist. Ebenso kritisch wurde unsere mangelnde Vergangenheitsbewältigung hinterfragt, vor allem aber auch unsere Neutralität – und zwar dahingehend, ob nicht aus der politisch-militärischen Neutralität auch eine Neutralität der Gesinnung entstanden ist.
Ich selbst habe ja immer wieder darauf hingewiesen, dass die Neutralität als solches in Österreich neben dem ungeheuren Vorteil eines Beitrages zur Befreiung des Landes von der Besatzung in späteren Jahren auch dazu geführt hat, dass man sich gewissermaßen isoliert, sich zu wenig stark engagiert und sich überhaupt in das herausbildende Europa der Europäischen Union zu spät integriert hat. Manche unserer heutigen Probleme sind auch damit in Zusammenhang zu sehen, dass schon bei vielen eine Art Neutralität der Gesinnung entstanden ist, ein Absentismus, ein Sich-Heraushalten aus dem Streit der anderen und mir das Engagement für Europa und seine Zukunft abgeht.

Selbstgewählte Isolation

Daher sehe ich schon auch die Situation, in der wir uns heute befinden, in Zusammenhang mit einer Selbstisolierung, die sich in vielen österreichischen Köpfen breit gemacht hat. Sie wird in besonderem Ausmaß von der FPÖ vertreten – wenngleich sie auf der anderen Seite, aber das ist ja nicht der einzige Widerspruch der FPÖ, den direkten NATO-Beitritt gefordert hat. Von ihrer Grundhaltung her ist die FPÖ jedenfalls eine Gruppierung, die die Isolation Österreichs noch mit einer gewissen Überheblichkeit verbindet, und das macht uns heute in unseren Kontakten vielfach zu schaffen.
Janos Reiter hat Recht, wenn er meint, dass wir unseren ungeheuren Lagevorteil, unsere Erfahrungen mit den Ländern Osteuropas einfach überhaupt nicht ausnützen und dass nicht wir die Experten für die Erweiterung der Europäischen Union sind, sondern die Deutschen – wenngleich dieser Eindruck in Polen und der Tschechien Republik stärker der Fall ist als in Ungarn, der Slowakei und Slowenien. Aber diese Tatsache, die mich immer wieder betrübt und enttäuscht, führt dazu, dass wir unsere Chancen im Zuge der Erweiterung nicht wirklich wahrnehmen. 
Warschau, 30.5.2000