Quo vadis, Europa?

Europa steht vor elementaren und entscheidenden Weichestellungen für die Zukunft. 
Eine Präsidentschaft geht zu Ende – die der Portugiesen.
Für viele Österreicherinnen und Österreicher ist sie verbunden mit dem Verhängen der Maßnahmen, im Sprachgebrauch der Regierung Sanktionen genannt, gegenüber der österreichischen Regierung. Man ist dabei nicht sehr geschickt und glücklich vorgegangen, aber ich glaube nach wie vor, dass es durchaus verständlich war und ist, dass die Europäische Union bzw. die 14 Partnerländer Österreichs auf die schwarz-blaue Regierungsbildung in unserem Land reagiert haben. Ob Portugal in den nächsten Tagen noch einen Ausweg aus dem Dilemma und der Situation finden kann, in der wir uns momentan alle befinden, wird man sehen.

Die Zukunft Europas

Für Europa ging es jedenfalls – so wichtig die „Causa Austria“ auch ist – während dieser Präsidentschaft in erster Linie um die Vorbereitung der Regierungskonferenz und in diesem Zusammenhang auch um die Vorbereitung der Abfassung einer Grundrechtscharta – beides Vorhaben, die durch die Portugiesen in den letzten Monaten intensiv vorbereitet wurden.
Natürlich war die portugiesische Präsidentschaft keine, die etwas abschliessen konnte, aber sie war eine, die in sehr vielen Fragen entscheidende Schritte unternommen hat. Dass diese Präsidentschaft gerade in den letzten Tagen durch eine Debatte über die Zukunft Europas generell „gestört“ bzw. überschattet wurde, nicht zuletzt durch die Rede des deutschen Außenministers Joschka Fischer an der Humboldt-Universität und insbesondere den Reaktionen aus Frankreich darauf, ist etwas, was viele Präsidentschaften zur Kenntnis nehmen müssen.

Joschka Fischers Europa

Die angesprochene Debatte bezieht sich einerseits auf die Frage, ob es zwischen der europäischen Ebene und den einzelnen Nationalstaaten und deren Untergruppierungen, zum Beispiel den einzelnen Bundesländern in Deutschland und Österreich, eine klar abgetrennte Arbeits- und Kompetenzverteilung geben kann.
Das hat Fischer versucht, als Ziel zu formulieren, und die deutschen Bundesländer sind insbesondere in diesem Punkt sehr aktiv geworden. Ich persönlich glaube, dass es wichtig ist, sich über diese Abgrenzung der verscheidenen Aufgaben auf den einzelnen Ebenen zunehmend Gedanken zu machen und letztendlich Beschlüsse zu fassen. Und es entspricht auch dem Vorhaben der Kommission, die sich auf das „Core business“, das Kerngeschäft konzentrieren möchte – vielleicht nicht gerade ein attraktiver Begriff, aber er zeigt doch in die selbe Richtung.

Die Kernaufgaben

Wir müssen uns klar darüber werden, was dieses Europa künftig tun soll. Ich habe insbesondere auch in den Debatten über die gesundheitlichen Auswirkungen des Rauchens und die Regelungen, die die EU in diesem Zusammenhang unternehmen will sowie hinsichtlich der Neuerungen des Eisenbahnverkehrs darauf hingewiesen, dass es nicht nur um jene Materien geht, die den einzelnen Kompetenzen zuzuordnen sind, sondern daß es auch um die Frage geht, inwieweit die Europäische Union selbst in jenen Materien, die europäische Angelegenheit sind, in Details gehen muss, die man durchaus den einzelnen Nationalstaaten überlassen könnte. Es steht uns jedenfalls eine spannende Debatte über die Zukunft Europas bevor.

Verstärkte Zusammenarbeit

Eine zweite wichtige Debatte, die damit in Zusammenhang steht, die aber doch einen anderen Aspekt beleuchten möchte, ist die Frage der verstärkten Zusammenarbeit. Auf dem portugiesischen Ratsgipfel in Feira ist beschlossen worden, die verstärkte Zusammenarbeit auf die Tagesordnung der Regierungskonferenz, die unter französischer Präsidentschaft stattfinden wird, zu setzen. Darunter versteht man, dass man entsprechende Regelungen suchen und finden möchte, damit einige Länder, die das wollen, weitere europäische Schritte setzen und sich gewissermassen als Avantgarde der Union darstellen können.
Zu fragen ist in diesem Zusammenhang, in welchen Gebieten so etwas stattfinden kann, wie viele Länder das sein müssen, ob es dazu der Zustimmung jener Staaten, die nicht mitmachen wollen, bedarf, wie das Parlament dabei einzubinden ist, das ja alle BürgerInnen dieses Europas vertritt – die, die bei einer verstärkten Zusammenarbeit mitmachen wollen genauso wie die BürgerInnen jener Staaten, die dabei zumindest noch nicht mitmachen wollen. Aber auch die Rolle der Kommission, jener Institution, die für alle Länder zuständig ist, ist zu definieren. Eine Fülle von Fragen also, die damit in Zusammenhang stehen.

Unübersichtlichkeit verhindern

Jacques Delors hat erst jüngst wieder unterstrichen, dass er nicht sehr angetan davon ist, eine verstärkte Zusammenarbeit, die auf unterschiedlichen Ebenen unterschiedlich ausgelegt werden kann, zu entwickeln.
Wir haben ja bereits jetzt bei Schengen, also der Zusammenarbeit hinsichtlich des Grenzregimes, und bei der Euro-Zusammenarbeit eine Art verstärkte Zusammenarbeit, aber jeweils unterschiedliche Staaten. Und die verstärkte Zusammenarbeit könnte natürlich dazu führen, dass drei, vier oder fünf Themenbereiche von Gruppierungen von Staaten in einer verstärkten Zusammenarbeit erledigt werden, die sich aber aus einer unterschiedlichen Gruppe von Mitgliedsländern zusammensetzt.
Die Übersichtlichkeit darüber, was Europa ist, wird durch diese „variable Geometrie“ nicht leichter, sondern wesentlich und vielleicht sogar schmerzhaft reduziert.

Auf dem Weg zum „Kerneuropa“

Aus diesen Gründen schlägt Jacques Delors vor, dass es nicht darum gehen kann, auf verschiedenen Ebenen unterschiedliche Gruppen von Staaten zur verstärkten Zusammenarbeiten zu installieren. Ihm scheint es sinnvoller, einer Gruppe von Ländern, die der Meinung ist, weiter zu gehen als die anderen, zu gestatten, in bestimmten Bereichen tatsächlich weiter zu gehen. Dann darf es aber nur eine Gruppe geben, die in klar definierten Bereichen weitere Schritte unternimmt, wenngleich sie offen ist für die übrigen Mitgliedsländer ist.
Somit wäre klar, dass es das ein grosses weites Europa gibt und ein Kerneuropa mit einem hoffentlich wachsenden Kern. Mir scheint diese Vorgangsweise durchaus sinnvoll zu sein, sinnvoller jedenfalls als die verstärkte Zusammenarbeit, die vielleicht realistischer ist, die die Unübersichtlichkeit im Rahmen der Europäischen Union aber nur noch weiter erhöhen würde.
Auch bei der Entwicklung eines Kerneuropas stellen sich natürlich einige Fragen, nämlich jene, wie die Institutionen, die für Gesamteuropa zuständig sind – die Kommission und das Parlament – in diesen Entscheidungsprozess eingebunden sind. Aber jedenfalls wäre eine klarere Regelung gegeben als bei unterschiedlichen Zusammenarbeitsformen, bei denen unterschiedlich strukturierte Gruppen von Mitgliedsländern teilnehmen.

Basis zur Weiternetwicklung

Sogesehen ist sicher noch viel zu tun, auch nach dieser portugiesischen Präsidentschaft und nach Feira, um die Basis zu schaffen, dass sich Europa weiterentwickelt. Und um die Basis dafür zu schaffen, dass die Aufnahme neuer Mitglieder nicht der Verstärkung und Vertiefung der Europäischen Union entgegensteht. Wie es immer wieder gefordert wird, Erweiterung und Vertiefung der Union, also Vergrößerung und Stärkung der Europäischen Union müssen Hand in Hand gehen. 
Wien, 24.6.2000