So nah und doch so fern

Ein kurzer Blick in die Fahrplanauskunft der ÖBB zeigt, wie weit Bratislava heute noch oder vielleicht sogar wieder von Wien entfernt ist. 
Soeben kehre ich von Bratislava zurück, wo eine Diskussion über mögliche Hilfe und Unterstützung für die Opposition in Serbien stattgefunden hat. (Siehe dazu das entsprechende Kapitel. Dieser „Briefe aus Europa“.)

In 7 Stunden und 42 Minuten von Wien nach Bratislava

Bratislava liegt, vertraut man den Internetinformationen über die Verkehrsverbindungen zwischen Wien und Bratislava, 74 km von der österreichischen Hauptstadt entfernt. Es liegt also vor unserer Haustür, und es war auch einmal durch eine Straßenbahn mit Wien verbunden. Konsultiert man jedoch das Internet, um mögliche Verbindungen mit öffentlichen Verkehrsverbindungen – Bahn oder Bus – zu eruieren, so ist man zuerst einmal verwirrt. Die kürzeste Verbindung mit dem Zentrum von Bratislava besteht aus einer eineinhalb stündigen Reise mit dem Zug bzw. mit dem Bus. Die längste Verbindung, die ausgewiesen wird, beträgt 7 Stunden und 42 Minuten. Was grotesk ist, da man ja dann fast zu Fuß gehen könnte. Die meisten angegebenen Zeiten liegen zwischen zweieinhalb und dreieinhalb Stunden.
Allein dieser Blick in die Fahrplanauskunft der ÖBB zeigt eigentlich, wie weit Bratislava heute noch oder vielleicht sogar wieder entfernt ist. Ich jedenfalls entschied mich für den Bus um acht Uhr morgens, der über den Flughafen zum Autobusbahnhof nach Bratislava fuhr. Der Grenzaufenthalt war überraschend kurz. Am meisten überrascht hat das den Fahrer, denn er rechnete mit einer Stunde Aufenthalt.
Allerdings, der österreichische und der slowakische Zöllner kamen gleich in den Bus, obwohl noch andere Busse, allerdings keine Linienbusse, an der Grenze warten mussten. Für mich war es selbstverständlich, dass die Linienbusse rasch abgefertigt werden. Für den Fahrer war es ein unfassbares Ereignis. Nur durch die rasche Abfertigung konnte überhaupt die Fahrzeit von 1 ½ Stunden eingehalten werden.

Auf dem Weg zum Schmuckkästchen

Bratislava selbst bietet heute eine durchaus lebendige und in weiten Teilen renovierte Altstadt. Und auch was die zum Teil schrecklichen Stadtrandsiedlungen betrifft, hat sich einiges an Renovierungen und an Neubauten getan.
Natürlich gibt es noch viele Probleme. Bratislava hat noch keineswegs das Bild einer reichen Stadt, aber verglichen mit dem was hier vor 10 und mehr Jahren zu sehen war, merkt man doch den deutlichen Unterschied, die Anstrengungen, die diese Stadt unternommen hat, um sich zu mausern, um die Gebäude der Vergangenheit in einer durchaus attraktiven Art und Weise herzuzeigen, Fußgängerzonen zu schaffen etc. Bratislava hat noch nicht Anschluss gefunden, ist aber sicherlich dabei, Anschluss an die Städte im Westen unseres Kontinents zu finden.

Einmal im Kreis

Und so verließ ich durchaus mit einem guten Eindruck wieder die slowakische Hauptstadt. Ich ging zu Fuß vom Hotel Forum, wo die Tagung stattgefunden hat, zum Bahnhof und bestieg dort den Zug, der um 17.55 Uhr pünktlich abfuhr. Der Zug nahm aber nicht mehr wie früher seinen Weg, direkt die March durchquerend, durch den Norden Wiens zum Südbahnhof bzw. Ostbahnhof. Nein, er machte zuerst eine große Runde durch und um die Vorstädte Bratislavas und kam nach 20 Minuten in einer Neubausiedlung von Bratislava an. Dort ging es aber nicht gleich weiter, nein die Zollkontrolle bestieg den Zug und kontrollierte unsere Pässe. Der Zug sollte um 18.32 Uhr weiterfahren. Aber es dauerte ein bisschen länger und um 18.40 Uhr ging es dann weiter.
Die hervorragende Idee, eine neue Verbindung nach Bratislava zu schaffen, hat leider dazu geführt, dass man zwar am selben Bahnhof nahe dem Stadtzentrum einsteigen kann, dass man aber nur 40 Minuten dazu braucht, um vom Zentrum Bratislavas in den Vorort Betrashalma zu fahren. Um schließlich dort zu warten und wie gesagt nach etwa 40 Minuten die Reise nach Wien anzutreten. Es ist geradezu grotesk, dass man heute vom Zentrum Bratislavas zum Ostbahnhof länger braucht als noch vor zwei oder drei Jahren.

Grenzkontrollregime

Das zeigt die ungeheuren Fehlplanungen der europäischen Eisenbahnen und der Österreich und Slowakischen kombiniert. Vor allem zeigt es auch die grotesken Grenzkontrollregimes, die beispielsweise in diesem Fall einen 20minütigen Aufenthalt in Betrashalma verursachen, weil es anscheinend nicht üblich oder nicht machbar bzw. gewünscht ist, dass so wie bei anderen Zugverbindungen die Grenzkontrolle im fahrenden Zug stattfindet.
Diese absurde Situation, die sich zwischen zwei benachbarten Hauptstädten Europas abspielt, mit langwierigen, unnötigerweise langwierigen Grenzkontrollen und Grenzaufenthalten, ist für mich ein Beleg dafür, wie wenig wir im Letzten Jahrzehnt gelernt haben. Und wie wenig wir eigentlich gemeinsam daran gegangen sind, der Notwendigkeit der Grenzkontrollen, insbesondere in einer Schengen-Aussengrenze, die Erweiterung der Europäischen Union und das Zusammenführen zweier Nachbarn vorzubereiten.

Von der Realität eingeholt

Wahrscheinlich spiegelt diese Situation an der Grenze auch die Situation in unseren Köpfen wieder, wo wir uns so nah sind, aber uns nicht wirklich näher kommen wollen. Für mich, der nur wenige Kilometer von Bratislava entfernt geboren wurde, dem diese Reise nach und von Bratislava meine Kindheit in Erinnerung ruft und der ich diese Landschaft so gut kenne, ist das ungemein traurig.
Denn die Hoffnungen, die ich hatte, als ich kurz nach dem Zusammenbruch des Eisernen Vorhangs in Bratislava bei einer Veranstaltung in einem Theater teilgenommen habe, wo ich die leuchtenden, hoffnungsvollen Augen der slowakischen Zuhörer und Mitdiskutanten nie vergessen werde, ist eines enttäuschend zu sehen: Nicht dass uns eine Realität eingeholt hat, sondern welche Realität uns eingeholt hat. 
Wien, 8. Juli 2000