Sprengstoff Kurdenfrage

Die Türkei müsste versuchen, die Kurdenfrage auf eine demokratische Art zu lösen, um tatsächlich zu einer Veränderung der Situation beizutragen.
Gestern Nachmittag fand in der Volkshochschule Favoriten eine Diskussion über den Föderalismus als Konfliktlösungsmodell, vor allem in Zusammenhang mit der kurdischen Frage statt. Mit am Podium saßen mir zwei wohl bekannte Vertreter von kurdisch geprägten Menschenrechtsorganisationen in der Türkei sowie Professor Esterbauer aus Innsbruck, der sich intensiv mit der Frage des Föderalismus beschäftigt hat.

Was bedeutet Selbstbestimmungsrecht?

Es kam zu sehr heftigen Diskussionen, denn ich habe den Auftritt Esterbauers etwas naiv empfunden. Er meinte, Selbstbestimmungsrecht hieße, dass ein Volk seine Existenz insofern selbst bestimmen kann, als es festlegen kann, in einem anderen Staat zu bleiben, in einen anderen Staat zu wechseln oder unabhängig zu werden. Esterbauer bedauerte, dass es heute leider nicht dazu kommt, dass dieses Selbstbestimmungsrecht auch wirklich konsequent umgesetzt wird.
Wenn man diesen Gedanken zu Ende denkt, führt das allerdings zur Katastrophe. Wenn jedes Volk, das ja meistens mit anderen Völkern gemischt lebt, sich zu einer solchen Tat entscheiden könnte und dafür internationale Anerkennung bekäme, hätten wir bald die Verhältnisse vom Balkan multipliziert. Wie sollte das ausserdem in der Praxis funktionieren? Bei meinen Reisen in den Balkan habe ich immer wieder feststellen können, dass beispielsweise die Albaner in Mazedonien unabhängig werden, aber auch in „ihren“ Gebieten in Mazedonien leben wollen. Beim Kosovo gibt es das grosse Problem mit den Serben in diesem Gebiet.
Ebenso wie bei den Basken: Teile der Basken wollen unabhängig werden, aber was ist mit den Spaniern und jenen Basken, die nicht unabhängig werden wollen?

Ausweg Föderalisierung

Würde man diese Ideen durchsetzen, würde es zu einer Unzahl von Konflikten kommen, im Extremfall zu blutigen Auseinandersetzungen – und genau das brauchen und wollen wir nicht, davon haben wir bereits genug erlebt.
Ein Ausweg, den auch Professor Esterbauer angeboten hat, ist zweifellos die Föderalisierung, also das Recht auf eine Autonomie innerhalb des Staatenverbandes. Das würde ich weitaus wichtiger erachten, insbesondere auch für die Türkei – und zwar unabhängig von der ethnischen Frage. Denn die Föderalisierung ist sicherlich kein Konfliktlösungsmodell für die ethnische Frage schlechthin. Viele Kurden leben beispielsweise in Ankara oder Istanbul und werden kaum zurückkehren, wie mir immer wieder bestätigt wird. Auch hier ist Föderalismus also nur eine Teillösung.

Regionalisierung im Interesse der Demokratie

Die Thematik sollte generell gar nicht so sehr mit der ethnischen Frage verbunden werden, sondern vielmehr mit der Frage der Demokratie, einer Lockerung des extremen Nationalismus und eines demokratischen Wettbewerbs zwischen den einzelnen Regionen. Bei politischen Menschenrechtsfragen sowie kulturellen und wirtschaftlichen Fragen ist die Türkei nicht sehr aufgeschlossen.
Es würde der Türkei gut anstehen, würde sie hier etwas lockerer sein und ein Modell einer demokratischen Föderalisierung, auch Regionalisierung innerhalb des Landes entwickeln. Es sollte nicht zuletzt auch die Gemeindeautonomie erhöhen. Denn es gibt in der Türkei viele gewählte Bürgermeister, die große Schwierigkeiten haben, ihre Ideen und Vorstellungen umzusetzen. Sie werden durch die vom Staat ernannten Gouverneure, die zum Teil noch Notstandsgouverneure sind, finanziell extrem beschnitten und in ihren Rechten eingeschränkt.

Stabile föderale Struktur ist möglich

Ich glaube, dass durch eine vernünftige föderalisierte Stärkung sowie der kommunalen Autonomie in der Türkei die Möglichkeit geschaffen würde, von erstarrten nationalistisch-zentralistischen Strukturen in eine durchaus stabile, föderale Struktur zu gelangen. Garantie, dass dieser Prozess friedlich und ruhig vor sich geht, gibt es natürlich keine. Es gibt und gab immer wieder Konflikte in Belgien. Und wie das Beispiel des Baskenlandes zeigt, ist die Regionalisierung und Föderalisierung nicht unbedingt das Ende von gewaltsamen und terroristischen Versuchen, mehr zu erreichen – nämlich die volle staatliche Unabhängigkeit.
In der Türkei ist die Situation aufgrund der Nachbarschaft zu den kurdischen Gebieten im Iran, im Irak und in Syrien in besonderem Ausmaß spannungsgeladen. Zuletzt fürchtete die Türkei amerikanische Interventionen im Irak, die zu unabhängigen kurdischen Staaten führen könnten. Was die Amerikaner zwar nicht wollen, was sich aber aus den Entwicklungen ergeben kann. Die Türkei würde allerdings Wege finden, dies zu verhindern, indem ihre Truppen einmarschieren, was den Weg der Türkei in Richtung Europäische Union jedenfalls nicht stärken würde.

Explosionsgefahr

Die Türkei müsste aus meiner Sicht versuchen, die Kurdenfrage auf eine demokratische Art zu lösen, um tatsächlich zu einer Veränderung der Situation beizutragen. Auch wenn es derzeit in dieser Hinsicht etwas ruhiger ist, handelt es sich doch um eine Frage mit Sprengstoff. Genau hier liegt ein Pulverfass in der Türkei begraben. Dieses ist ein bisschen gelockert durch die Streuung der Kurden über das gesamte türkische Staatsgebiet. Trotzdem kann es im Fall des Falles wieder zu einer großen Krise und zu Konflikten in den verschiedensten Regionen der Türkei führen.  
Wien, 17.1.2002