Türkische Klimaschwankungen

Viele Indizien deuten ziemlich klar darauf hin, dass es derzeit in der Türkei starke Kräfte gibt, die die Annäherung an Europa verhindern wollen. 
Mein Aufenthalt in Istanbul folgte auf eine Plenarsitzung im Europäischen Parlament in Brüssel, bei der direkt wie indirekt einmal mehr die Türkei zur Diskussion stand.
Einerseits haben wir eine Resolution verfasst, die angesichts der drohenden Schließung und des drohenden Verbots der HADEP, also der kurdischen Partei, klar zum Ausdruck bringt, dass wir dieses Vorgehen äusserst negativ erachten.

Schlechtes Klima

Andererseits ist in einem Bericht über den Kaukasus erneut die Frage über den türkischen Genozid in Armenien aufgetaucht. Der Versuch, dieses Thema hintanzuhalten, ist gescheitert. Auch ich habe einen solchen Versuch gestartet. Die Mehrheit hingegen war der Meinung, man müsse dieses Thema, wenn es schon nicht breit genug bei den Berichten über die Türkei berücksichtigt wurde, wenigstens diesmal klar und deutlich ansprechen.
Ich bin allerdings nach wie vor überzeugt, dass Parlamente nicht dazu da sind, Entscheidungen über bereits vergangene Taten und Untaten zu treffen. Es trägt auch nicht dazu bei, die Beziehungen zwischen Armenien und der Türkei zu verbessern, sondern macht die Stimmung nur schlechter. Dennoch gibt es einige Lobbyisten, die mit aller Kraft und Gewalt immer wieder dieses Thema auf die Tagesordnung bringen. Und jene, die der Türkei nicht wohlgesinnt sind oder sich nicht viel überlegen, stimmen in den Chor ein, indem sie vorgeben, unbedingt den Armeniern helfen zu müssen.
Ich betone es noch einmal: Jedes Land muss sich seiner Geschichte stellen. Aber wie wir gerade bei der aktuellen Diskussion über die Benes-Dekrete beobachten können, ist nicht sehr effizient, historischen Fragen immer mit aktuellen politischen Entscheidungen zu verknüpfen, im konkreten Fall mit der Entscheidung über den EU-Beitritt.

Augenauswischerei

Natürlich bin ich bei mehreren Interviews für türkische Fernsehsendungen auf diese beiden Themen angesprochen worden, unter anderem auch in einer halbstündigen Diskussion, in der mich der Chefredakteur von CNN gemeinsam mit einem ehemaligen Diplomaten, der jetzt als politischer Berater von CNN arbeitet, interviewt hat.
Ich habe vermittelt, dass ich diese Entscheidung nicht für sinnvoll halte. Ich habe aber eben so klar gemacht, dass die Position der Türkei viel besser wäre, würde sie im eigenen Land den Kurden gegenüber eine offenere Politik betreiben. Es geht ja nicht um einen eigenen Kurdenstaat. Es geht nicht einmal um die Forderungen Europas, eine regionale Autonomie herzustellen. Es geht vielmehr um eine wirtschaftliche, soziale und kulturelle Besserstellung der Kurden. Zwar wurde die Verfassung geändert, aber nicht die Ausführungsgesetze. Die Polizei kann somit weiterhin Aktionen setzen, die der Verfassung widersprechen. Das trifft auch auf das drohende Verbot der HADEP zu. Und es trifft auf die Tatsache zu, ich habe das dieser Tage im Parlament zur Sprache gebracht, dass die Emails der EU-Kommissionsvertreter in Ankara, Karin Fogg, nicht nur abgelesen, sondern auch in Zeitungen veröffentlicht worden sind.

Verhinderer am Werk

Auch durch andere Indizien ist ziemlich klar geworden, dass es derzeit in der Türkei starke Kräfte gibt, die die Annäherung an Europa verhindern wollen – sei es in der Zypernfrage oder in der Beitrittsfrage selbst. Das finde ich eigentlich sehr traurig. Andererseits bestätigt sich um so mehr meine Meinung, dass die Türkei – noch – nicht bereit ist, für die europäische Dimension zu kämpfen. Man muss sich klar sein: das Wesentliche an Europa ist letztlich die Abgabe von nationaler Souveränität. In einem Land, das so nationalistisch ist wie die Türkei, ist das extrem problematisch. Meine Gesprächspartner meinten zwar, dass Deutschland und Frankreich doch auch sehr nationalistisch seien. Aber sie mussten schliesslich zugeben, dass man sich in der Türkei mit dieser Frage noch nicht einmal beschäftigt hat.
Genau das ist für mich das Ausschlaggebende. So wichtig Details und Änderungen auch sein mögen, so ist für mich letztendlich vor allem entscheidend, ob die Türkei wirklich bereit ist, den Nutzen, aber auch die Pflichten zu akzeptieren, die mit einem Beitritt zur Europäischen Union verbunden sind. Oder ob es nicht besser wäre, dass sie eine eigenständige europäische Rolle spielt, in Partnerschaft mit der Europäischen Union, aber nicht als eines von vielen Mitgliedern. 
Wien, 3.3.2002