Türkische Zwischenbilanz

Die Haftbedingungen in der Türkei sind so anzupassen, dass kein Grund mehr für Hungerstreiks besteht und nach außen hin sichtbar wird, dass ein Ausweg aus der tiefen wirtschaftlichen und politischen Krise gesucht wird. 
Ich befinde mich wieder auf dem Flughafen von Ankara. Mein kurzer, spontaner, informeller Besuch geht zu Ende. War er erfolgreich? Wenn man sich erwartet hat, dass es zu einem Dialog bzw. zu einer Vermittlung zwischen den Gefangenen und deren Vertretern einerseits und der Regierung andererseits kommen würde, war er das wohl nicht.
Ich selbst konnte zudem durch widrige Umstände an keinem der Gespräche mit den Ministern teilnehmen. Zum Gespräch mit dem Justizminister kam ich zu spät, der Termin mit Yilmaz findet erst nach meinem Abflug statt und das Gespräch mit dem stellvertretenden Ministerpräsidenten ist überhaupt abgesagt worden – offiziell aus gesundheitlichen Gründen. Ob es tatsächlich eine politisch motivierte Absage war können wir nicht beurteilen.

Tiefe Vertrauenskrise

Jedenfalls scheint es, dass der Besuch von Cohn Bendit und mir in Ankara nicht unbedingt Freude hervorgerufen hat. Die Regierung zeigte sich überzeugt, im Recht zu sein und „durchhalten“ zu wollen. Unsere Botschaften haben wir natürlich auch vor allem über die Medien kundgetan, die wir von uns aus gar nicht näher mit unserem Besuch befassen wollten, die aber hinter uns her waren und sich daher manches Interview gar nicht vermeiden liess.
Das Gespräch gestern Abend mit den Vertretern der Menschenrechtsorganisationen und der Ärztekammer hat einmal mehr bestätigt, dass großes Misstrauen gegenüber der Regierung besteht. Ebenso gibt es Kritik am Europarat, der die Neuordnung des Gefängniswesens zu juristisch und zu formal beurteilt und die politischen Bedingungen nicht miteinkalkuliert. Es ist einerseits einfach eine Tatsache, dass man in diesem Land besonders schnell zu einem politischen Gefangenen wird und dass andererseits nach unseren Erfahrungen die Bereitschaft zur Isolationshaft und letztendlich auch zur Folter in den türkischen Gefängnissen größer ist als in Gefängnissen anderer europäischer Staaten.

Teufelskreis mit Eigendynamik

Das muss man bei all jenen Reformen, die hier angepeilt werden und all dem Bestreben, kleinere Zellen für die Gefangenen zu schaffen, natürlich mitbedenken. Wenn man im täglichen Leben mehr Intimität, mehr Selbstbewusstsein und mehr Vertrauen schafft, kann dies unter widrigen Umständen mehr Isolierung und letztendlich eine gewisse Form der Folter darstellen.
Das war und ist unsere Botschaft an die Regierung, die Menschenrechtsorganisationen, die Hungerstreikenden und die Medien. Wir glauben, dass der Hungerstreik und die Tatsache, dass laufend Menschen in den Gefängnissen sterben, gestoppt werden muss. Diese Streiks setzen einen Teufelskreis in Gang, der nicht nur noch mehr Tote bringt, sondern auch das Vertrauen in die Türkei insgesamt verringert. Vor allem die Bestrebungen der Türkei in Richtung Europa werden dadurch schwer geschädigt.
Die Türkei sieht das anders. Sie hat in erster Linie die sicherlich abstrusen, revolutionären Zielsetzungen jener, die zum Teil hinter den Hungerstreikenden stehen, im Auge und steht auf dem Standpunkt, nicht unter den Drohungen und Erpressungen dieser Menschen verhandeln zu wollen.

Menschenrechte einhalten

Es ist aber auch gar nicht über generelle Forderungen politischer Natur zu verhandeln. Es geht vielmehr darum – und zwar ausschließlich -, die Situation der Menschen in den Gefängnissen so zu gestalten, dass sie den Menschenrechten entsprechen. Das ist unserer Ansicht nach nicht durchgehend gewährleistet. Dass man vorhat, den Artikel 16 des Strafvollzuggesetzes zu ändern, ist vielleicht ein kleiner Schritt der Besserung, aber aus unserer Sicht nicht ausreichend.
Dennoch sind wir der Meinung, dass es letztlich zu einer Regelung im Interesse der Gefangenen kommen könnte. Und zwar dann, wenn man die entsprechenden Gesetzesänderungen beschließt, aber gleichzeitig die Reformen möglichst flexibel, liberal und mit einer offenen Einstellung im Interesse der Gefangenen durchführt. Das kann man natürlich schon vor der Beschlussfassung tun, aber nach der Beschlussfassung erst recht. Einschränkende Bedingungen, die etwa zur Folge haben, dass nicht nur die sich wohlverhaltenden Gefangenen und jene, die sich nach Meinung der Regierung in den politischen Ansichten ändern, eine humane Behandlung erfahren, sollte fallen gelassen werden.

Gespräch zwischen Tauben

Nun, bisher sind beide Seiten eigentlich nicht gesprächsbereit. Es handelt sich vielmehr um ein Gespräch zwischen Tauben, das die Blockadesituation sicherlich nicht aufweichen kann. Wir wollten mit dieser Reise jedenfalls trotzdem die tiefe Besorgnis in Europa über die Entwicklungen in der Türkei zum Ausdruck bringen. Und wir wollten zeigen, dass wir, wenn notwendig, auch rasch und spontan den Versuch starten werden, die Verhältnisse in der Türkei in Richtung mehr Demokratie und Respekt für die Menschenrechte zu ändern.
Auch wenn uns von vornherein bewusst war, dass wir kaum unmittelbar Erfolge erzielen werden: Dieser Druck muss ganz einfach ausgeübt und noch verstärkt werden – nicht gegen die Türkei als solches, sondern gegen den mangelnden Mut im Land und gegen eine Regierung, die mit dem Beharren auf dem Standpunkt ihre eigenen Ziele in Zukunft schlechter verfolgen kann als bisher.

Den inneren Frieden suchen

In einigen Tagen ist es 20 Jahre her, dass der erste Hungerstreikende in den Gefängnissen Nordirlands gestorben ist. Es bedurfte noch weiterer 10 Gefangener, um einen Prozess einzuleiten, der einerseits die Haftbedingungen geändert hat und andererseits jene Rahmenbedingungen geschaffen hat, die schliesslich die Friedensverhandlungen ermöglicht haben.
In der Türkei haben inzwischen schon mehr Hungerstreikende ihr Leben lassen müssen. Es ist also höchst an der Zeit, einen Ausweg zu suchen. Und es geht dabei nicht, um das noch einmal ausdrücklich zu betonen, um die Unterstützung oder das Gutheißen der pseudo-revolutionären Forderungen jener Organisationen, die hinter dem Hungerstreik stehen.
Vielmehr es geht darum, die Haftbedingungen in der Türkei so anzupassen, dass einerseits kein Grund mehr für Hungerstreiks besteht und andererseits auch nach außen hin sichtbar wird, dass die Türkei alles unternimmt, um den inneren Frieden und einen Ausweg aus der tiefen wirtschaftlichen, aber auch politischen Krise in diesem Land zu suchen!  
Ankara, 2.5.2001