Unsichere Nachbarschaft

ec.europa.eu

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Europa selbst befindet sich seit einiger Zeit in einer sehr fragilen und unsicheren Lage. Das betrifft vor allem die wirtschaftliche Situation.

Ukraine

Aber jetzt kommen noch zusätzliche Herausforderungen aus unserer östlichen, südöstlichen und südlichen Nachbarschaft. In der Ukraine findet die neue Regierung noch nicht zu einer politischen Stabilität und beide, Regierung und Opposition, bekämpfen sich mit Korruptionsvorwürfen. Dabei geht die Justiz vornehmlich, aber nicht ausschließlich gegen OppositionspolitikerInnen vor.

Diesbezügliche Bedenken habe ich auch dem ukrainischen Botschafter gegenüber bei einem Gespräch am Rande der Parlamentssitzung in Straßburg zum Ausdruck gebracht. Ich würde mir wünschen, dass man die politischen Auseinandersetzungen mit mehr Augenmaß und Zurückhaltung führt und sich auf die wirtschaftlichen und sozialen Reformen konzentriert. Aber da wieder versucht die Opposition, die Unlust der Bevölkerung gegen notwendige Reformen wie des Steuer- und des Pensionssystems auszunützen und die Proteste anzuheizen.

Tunesien

Proteste am anderen Ende unserer Nachbarschaft, nämlich in Tunesien, musste man nicht anheizen. Die Menschen hatten genug von einem langjährigen autoritären System, das sich als fortschrittlich ausgab, aber gleichzeitig persönlich extrem bereicherte. Wir haben uns im EU-Parlament schon seit Jahren mit der zwiespältigen Situation in Tunesien auseinandergesetzt. Einerseits war Tunesien tatsächlich ein muslimisches Land, das in einigen Gebieten, so bei der Gleichstellung der Frauen und bezüglich eines moderaten Islam, fortschrittlich war. Aber das wurde gleichzeitig durch eine autoritäre politische Führung und durch ein polizeistaatliches System erkauft. Wenn wir das kritisiert haben, dann hat man uns immer wieder die Gefahr des Islamismus und des Terrorismus vor Augen geführt.

Wir haben im EU-Parlament immer wieder gravierende Menschenrechtsverletzungen angeprangert, da wir befürchteten, dass am Ende des Tages gerade diese Missachtung von Meinungsfreiheit und anderen Menschenrechten die Fundamentalisten stärken würde. Ich habe es mit der Zeit auch aufgegeben, immer wieder mit den ParlamentarierInnen aus Tunesien, die uns besuchten, dieselben Argumente auszutauschen. Sie kamen nämlich immer mit den Hinweisen, dass man Tunesien nicht mit europäischen Maßstäben messen dürfe und sie mehr Zeit bräuchten, um die Bevölkerung an die Demokratie zu gewöhnen. Letztendlich aber stand dahinter die reine Macherhaltung einer kleinen Elite. Dass sie sich auch noch so extrem bereichert hatte, das konnte ich allerdings nicht erkennen.

Flächenbrand?

Jetzt stellt sich die Frage, inwiefern die „Jasmin-Revolution“ in Tunesien Auswirkungen auf die ebenfalls autoritär regierten Nachbarstaaten haben wird. Das autoritärste und zugleich groteskeste Regime befindet sich sicher in Libyen. Derzeit gibt es allerdings von dort keine Anzeichen an größeren Protesten. Aber nicht, weil alle zufrieden sind, sondern wohl eher auf Grund von Apathie. In Ägypten sind die Verhältnisse schon gespannter, und es gab auch schon mehrere Proteste inklusive Selbstverbrennungen. Ähnlich sind die Verhältnisse in Algerien, allerdings gibt es dort eine vielfältigere Presse und relativ freie Wahlen, jedoch mit einer starken Dominanz einer militärisch- wirtschaftlichen Oligarchie. Und auch dort ist die Jugend durch Arbeitslosigkeit und mangelnde Chancen unzufrieden und protestbereit. Vor allem sieht sie sich um eine gerechten Anteil an den Einkommen aus den großen Erdöl- und Gasvorkommen betrogen. Am stabilsten scheint Marokko zu sein, aber das heißt nicht, dass dort nicht auch starke „unterirdische“ Oppositionskräfte am Wirken sind.

Europas Verantwortung

Mit Recht stellen viele die Frage, inwieweit die Ereignisse in Tunesien und mögliche Ansteckungen in den Nachbarländern den Fundamentalisten im die Hände spielen. Ich bin fest überzeugt, dass die meiste – indirekte – Förderung die Islamisten durch den Mangel an Demokratie, durch die Bereicherung der Oligarchen, durch polizeiliche Überwachung und Folter und durch den Mangel an sozialen Reformen erfahren. Das sind die Faktoren, die es den Fundamentalisten ermöglichen, sich als Demokraten und als soziale Partei darzustellen.

Daher muss Europa jetzt zweierlei tun. Erstens müssen wir der Bevölkerung in Tunesien helfen, einen demokratischen Staat mit einer effizienten Wirtschaftspolitik und einer Politik der sozialen Sicherheit aufzubauen. Und wir müssen ihnen helfen, denen zu widerstehen, die die revolutionäre Situation ausnützen wollen, um den Menschen ihre Form des Islam aufzuzwingen. Und zweitens sollten wir den Druck auf die anderen Staaten Nordafrikas verstärken, um sie zu bewegen, sich mehr von den Werten der Demokratie und der sozialen Gerechtigkeit leiten zu lassen. Und wir sollten jenseits von Wirtschaftsbeziehungen und Diplomatie klar machen, auf welcher Seite wir stehen: auf der Seite der Verfolgten, der Armen und der Vernachlässigten.

Balkan

In unserer unmittelbareren Umgebung geht es natürlich nicht so revolutionär zu wie in Tunesien, den Sturz von Regimes wie jenes von Ben Ali den haben die Staaten des Balkans schon hinter sich. Aber trotzdem haben sie noch eine weite Reise in Richtung von politischer Stabilität und nachbarschaftlicher Zusammenarbeit vor sich. Im EU-Parlament haben wir in der vergangenen Woche einerseits das Assozierungs- und Stabilisierungsabkommen mit Serbien beschlossen und auch einen Serbienbericht verabschiedet. Aus diesem Anlass war auch der stellvertretende serbische Ministerpräsident Djelic in Straßburg. Andererseits habe ich den Parlamentspräsidenten und derzeit amtierenden Präsidenten des Kosovo, Krasniqi, zu einem Gespräch in die von mir geleitete Arbeitsgruppe „Westbalkan“ eingeladen.

Beide Länder sind noch weit entfernt von einer Verständigung über die Unabhängigkeit des Kosovo, ja nicht einmal über die Art und den Charakter der Gespräche ist man sich einig. Sinnvolle Gespräche wird es wahrscheinlich erst nach der Regierungsbildung im Kosovo geben, aber im mehrheitlich von „Serben“ bewohnten Gebiet im nördlichen Kosovo, nämlich in Mitrovica, muss erst gewählt werden.

Albanien

Viele andere Fragen sind noch offen, so die Regierungsbildung in Bosnien-Herzegowina und der Namensstreit zwischen Mazedonien und Griechenland, das ja diesen Namen für seinen Nachbarn nicht anerkennt. Was mich aber besonders betrübt, sind die neuen Auseinandersetzungen zwischen Anhängern der Regierung und der Opposition in Albanien. Nach neuesten Meldungen haben sie drei Todesopfer verursacht. Es ist kaum zu glauben, dass es im Europa von heute einem Land und seiner politischen Elite nicht gelingt, die politischen Auseinandersetzungen in einer friedlichen und zivilisierten Form abzuwickeln. Alle unsere Bemühungen zu einer friedlichen Streitbeilegung sind bisher gescheitert. Und ich gehe davon aus, dass beide Seiten ihre Verantwortung dafür tragen. Ich glaube, dass wir uns nochmals bemühen müssen – gerade nach den jüngsten schweren Zwischenfällen – zu einer zivilisierten und an europäischen Werten orientierten Diskussion in Albanien zu kommen.

Kroatien

Wie froh bin ich, dass ich für ein Land des Balkans Berichterstatter im Europäischen Parlament bin, das ein hohes Ausmaß an Stabilität und politischer Reife gewonnen hat. Das konnte ich auch bei meinem letzten Besuch in Kroatien wieder bemerken: sowohl im Gespräch mit dem Vorsitzenden der sozialdemokratischen Opposition als auch mit Vertretern der Regierung. Dem Beispiel Kroatiens sollten viele folgen, es ist kein Idealstaat und noch viele Reformen sind zu erledigen, aber schon viel ist geleistet worden. Kroatien ist auf dem richtigen Weg. Das Mitgliedsland Ungarn allerdings nicht, aber das ist ein anderes Kapitel.

Wien, 23.1.2011