DIE SPRENGKRAFT VON STÄDTEN UND KULTUR FÜR EUROPA

Wroclaw- die Kulturhauptstadt

Eine Konferenz in Wroclaw (Breslau), organisiert unter anderem von der Initiative „A Soul of Europe“, an der ich von Anbeginn teilnahm, ist der Anlass der folgenden Bemerkungen. Wroclaw ist nicht nur im Jahr 2016 europäische Kulturhauptstadt. Sie ist auch ein Ort des Widerstands gegen die jetzige polnische Regierung und deren national-konservativer Kulturpolitik. Wroclaw ist eine historische Stadt mit entsprechendem Stadtbild aber auch neuen Gebäuden, unter anderen für Kultur wie den Musikpalast. Für mich symbolisiert Wroclaw, zu den man heute wieder beruhigt Breslau sagen kann, genau jene Widerborstigkeit, die nationale Vorgaben durchbricht und sich mit dem Europäischen Gedanken und dessen Werte verbinden kann. Als diesjährige Kulturhauptstadt kann sie das in besonderem Maße. Und das ist die Sprengkraft von der ich im Titel meine, dass sie dazu beitragen kann, ein neues Europa auf den Weg zu bringen.

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Ich sollte auf der Konferenz zur europäischen Bedeutung der Städte für Europa und besonders der Kultur in den Städten sprechen. Ausgangspunkt für meine Überlegungen war eine – für das heutige Polen mutige – Aussage des Stadtpräsidenten von Wroclaw, Rafal Dutkiewicz, bei der Eröffnung unserer Tagung. Er meinte „Europa ist die Zukunft, Nationalismus ist Vergangenheit“. Aber was sind dann Städte?

Städte als Verbindung zur Zukunft

Ich glaube, Städte sind die Verbindung der Vergangenheit zur Zukunft. Dabei haben sie ja doch immer eine viel längere Geschichte als die Nationalstaaten. Und anderseits standen sie immer an der Produktion der Zukunft an vorderster Stelle. Städte bereiten die Zukunft vor und entwickeln sie. So sprengen sie überkommene Verhältnisse und können nationale Begrenzungen, vor allem durch grenzüberschreitende Zusammenarbeit, überwinden. So könnten in Zukunft auch die Kulturhauptstädte noch enger zusammenarbeiten und ein aktives europäisches Netzwerk bilden.

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In diesem Sinn war es höchste Zeit, dass die EU auch im Frühjahr 2016 eine eigene Städteagenda beschlossen hat. Auf Basis dieser Agenda sollten verschiedene Städte miteinander für dringende Probleme, wie die Migrationsfrage, Vorschläge für eine europäische Politik entwickeln. Und wir müssen davon ausgehen, dass die europäischen aber auch die globalen Wanderungsbewegungen nicht verschwinden werden. Das gilt aber auch für die Umweltfragen, die Notwendigkeit des wirtschaftlichen Strukturwandels sowie der Schaffung von Arbeitsplätzen etc.

Städte sind jedenfalls der Angelpunkt der gesellschaftlichen Probleme aber auch der entsprechenden Lösungen. Ein großer Anteil des nationalen Sozialprodukts wird in den Städten entwickelt und die meisten Jobs werden dort gegründet. Genau aus diesem Grund ziehen die Menschen in die Städte und zwar in Form einer nationalen aber auch internationalen Zuwanderung. Und die neuen Vernetzungsmöglichkeiten via Facebook, Twitter, WhatsApp etc. haben nichts an diesem Zuzug zu den Städten geändert.

Der Beitrag der Kultur zur europäischen Identität

Aber auch die Kultur und die Künste als wesentlicher Bestandteil der Kultur sind besonders in den Städten zu Hause. Eine lebendige Kultur ist auch immer eine Verbindung der Vergangenheit über die Gegenwart mit der Zukunft. Und die Kultur zeigt uns auch, dass wir alle verschiedenen Identitäten haben. Es gibt nicht nur eine (!) persönliche oder auch nationale Identität. Sie ist eine multiple, hat verschiedene Wurzeln und ist aus unterschiedlichen Identitäten zusammengesetzt. In diesem Sinn ist auch die Verschiedenheit oder Diversität Europas nichts so Besonderes. Europa ist „nur“ eine Vervielfachung der sehr verschiedenen Identitäten, die man vor allem in den europäischen Städten, so auch in Wroclaw findet.

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Allerdings haben die europäischen Städten etwas Besonderes an sich. Die Verbindung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Elemente sowie die Versuche, sie in einem produktiven Gleichgewicht zu halten, ist einmalig. Viele sehen dieses Gleichgewicht in Europas Städten gefährdet, nicht zuletzt durch die Zuwanderung. Ja, die MigrantInnen bringen neue Herausforderung in unsere Städte. Sie bringen auch neue Kulturen, Religionen etc. mit sich. Aber Europa war immer wieder mit fremden Kulturen konfrontiert. Und Europa hat verstanden, diese in sich zu integrieren und sich anzupassen. Das heute existierende  Europa ist nur so zu verstehen.

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Dabei sollten man Städten, die sich unabhängig von den nationalen Regierungen in der Flüchtlingsbetreuung engagieren wollen auch seitens der EU Unterstützung gewähren können. Es ist ja grotesk, dass manche Regierungen verhindern können, dass sich Städte und NGOs, die sich engagieren wollen, es auch tun können. Das wäre ein typischer Fall wo die europäische und die kommunale Ebene gut zusammen arbeiten könnten.

Kultur im globalen Zusammenhang

Im Übrigen hat auch Europa seine Kulturen und – manchmal zweifelhaften – Werte nach außen getragen und zum Teil anderen mit Gewalt aufgezwungen. Dabei gehört der Kolonialismus nicht nur der Vergangenheit an sondern hat Auswirkungen in der Gegenwart und wird sie sicher noch in der Zukunft haben. Ich bin sehr froh, dass das, unter meiner Mitwirkung als Vorsitzender einer Expertenkommission beschlossene, Humboldt-Forum im wiederaufgebauten Schloss in Berlin sich genau auch mit den globalen kulturellen Konfrontationen in Vergangenheit und Zukunft auseinander setzen wird.

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In diesem Zusammenhang möchte ich den Präsidenten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und Mitglied der Gründungsintendanz für das Humboldt-Forum, Hermann Parzinger zitieren, der in der FAZ meinte: „Was wir gegenwärtig erleben, ist nicht nur eine Folge von Armut und Perspektivlosigkeit. Bildung ist eine der entscheidenden Waffen gegen Vorurteile und Extremismus, und das ist es, was Museen und Kultureinrichtungen insgesamt beim Kampf gegen Isolierung und Xenophobie in die Waagschale werfen können: Sie haben das Potential, den Menschen Toleranz und Respekt gegenüber anderen Kulturen zu vermitteln.“ Man mag viel über die äußere Form dieses Humboldt-Forums, das wieder aufgebaute Schloss, diskutieren, aber die Notwendigkeit des Forums und der erwähnten Aufgabenstellung sollte unbestritten sein. Mit dem so angelegten Humboldt-Forum wird eine wichtige europäische Aufgabe erfüllt.

Vielleicht kann sogar Kultur einen Beitrag zur Integration leisten. Natürlich setzt das auch die Bereitschaft voraus für andere Ideen und Anschauungen offen zu sein. Das betrifft aber nicht nur MigrantInnen. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass wir verschiedene vernachlässigte Schichten und Gruppen in unseren Gesellschaften und Städten haben. Es gibt viele Menschen die in einer geographischen oder wirtschaftlichen und sozialen Peripherie leben. Und auch die müssen wir ansprechen.

Die wirtschaftliche Entwicklung durch Globalisierung, technologische Entwicklungen etc. schaffen sogar zusätzliche Peripherien. Fixe, langfristige Arbeitsverträge werden immer mehr durch kurzfristige und prekäre Arbeitsverhältnisse abgelöst. Und zumeist trifft das gerade die „Familienerhalter“ und nicht nur Zusatzverdiener. Nicht dass die Kultur den Einkommensverlust ersetzen kann. Aber wir müssen versuchen, dass Kultur alle Schichten anspricht und nicht nur das „Zentrum“ sondern auch die „Peripherie“.

Kultur und Partizipation

Wenn wir dem Kulturtheoretiker Pier Luigi Sacco folgen – und ich tue das – dann gehört Kultur auch zur Wohlfahrt und stellt einen allgemeinen Anspruch dar. Heute muss daher Kultur in viel stärkerem Maße unter dem Gebot der Partizipation stehen. Kulturschaffende und KulturpolitikerInnen müssen sich überlegen, wie die Bevölkerung auch in die – gemeinsame Produktion – mit einbezogen werden kann. Dass heißt ja nicht, dass in allen Theateraufführungen die „Leute“ mitspielen sollten. Das bedeutet nicht, dass keine Ausstellungen ohne Bevölkerungsteilnahme stattfinden sollten.

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Schon dass man mit Theatern und Ausstellungen zu den Leute auch in periphereren Gebieten der Stadt bzw. in Viertel der ökonomischen und sozialen Peripherie kommt, ist ein wichtiger Schritt. So könnte man durchaus mit Flüchtlingen Theateraufführungen organisieren, wo sie auch ihre dramatischen und zum Teil traumatischen Erlebnisse verarbeiten könnten. Zum Teil geschieht das schon aber sicher zu wenig. Aber Kultur ist natürlich mehr als Theater und Ausstellungen.

Jedenfalls muss uns klar sein, dass sich Kultur – und das trifft besonders auch den Denkmalschutz – seiner gesellschaftlichen Aufgabe bewusst sein sollte. Ich erwähne den Denkmalschutz besonders, weil 2018 das europäische Jahr des kulturellen Erbes sein soll. Gerade auch in einer Stadt wie Wroclaw mit seiner langen und komplizierten Geschichte ist die Verflechtung von Stadtentwicklung, Baugeschehen und politischer Geschichte deutlich lesbar. Man braucht nur einen kurzen Blick ins historische Museum der Stadt werfen, so erkennt man diesen Zusammenhang.

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Kultur muss dabei Offenheit und Vielfältigkeit repräsentieren. Sie darf nicht als Propaganda-Instrument benützt werden, wie das in Diktaturen immer geschehen ist. So wurde in Wroclaw nach der Einbeziehung in Polen und damit in den kommunistischen Einflussbereich ein Internationaler Kongress der Intellektuellen mit klar ideologischer Ausrichtung abgehalten, an dem auch Picasso teilnahm. Die polnische Kulturpolitik von heute läuft Gefahr, in die Fußstapfen der unsäglichen kommunistischen Kulturpolitik zu treten. Wenn sie ihrer Freiheit und Kreativität beraubt wird, verliert sie ihre und die Sprengkraft gegenüber den politischen Verhältnissen – das wird ja auch gewünscht – aber auch ihre Attraktivität und ihren Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Lehren für Europa

So wie viele mitteleuropäische Städte hat auch Wroclaw/Breslau eine sehr wechselhafte und zum Teil grausame Geschichte. Es hatte auch eine gar nicht so kurze habsburgische Periode, die Lutherische Reformation hat schnell ihren Niederschlag gefunden und natürlich gab es einen langen preußischen und deutschen Einfluss. Mit der Machtübernahme durch Hitler begann eine besonders dunkle Periode die die Breslauer bis zum bitteren Ende erleiden mussten. Und dann kam zwar die Befreiung von der Nazi-Herrschaft aber nicht die demokratische Freiheit, sondern die kommunistische Diktatur unter dem sowjetischen Einfluss. Und viele Deutsche mussten die Stadt verlassen, die nun zu einer polnischen wurde. Heute muss sich die Stadt gegen den Einfluss der national-konservativen Regierung in Warschau wehren.

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Immer wenn man Städte mit einer Geschichte wie Breslau/Wroclaw besucht, erkennt man den Wert der Europäischen Einigung. Zufällig lese ich gerade das Werk von Ian Kershaw über den tragischen Verlauf der Zwischenkriegszeit. Und diese Lektüre verschärft noch die Angst vor einer Wiederholung aber auch die Hoffnung, dass Europa aus der Geschichte gelernt hat. Und dennoch müssen wir die EU ändern, wollen wir das Geeinte Europa bewahren. Die Sprengkraft der Städte und der Kultur könnte die nationalen und oftmals nationalistischen Blockaden durchbrechen und Europa und seine Institutionen stärker mit seinen BürgerInnen verbinden.