Laudatio an Christopher Clark anlässlich des Bruno Kreisky Preises für das politische Buch 2014

Wenn ich heute einige Bemerkungen über das Buch von Christopher Clark „Die Schlafwandler“ machen soll, dann bin ich versucht, natürlich auch einige Bemerkungen zur aktuellen Krise bezüglich der Ukraine und insbesondere der Krim zu machen.

Ich weiß nun nicht, ob wir, so wie ein aktueller Beitrag von Christopher Clark übertitelt ist, „klüger als vor 100“ Jahren sind. Aber jedenfalls waren wir bzw. unsere Vorgänger vor 100 Jahren nicht sehr klug.

Christopher Clark spricht davon, dass die „Protoganisten von 1914 Schlafwandler“ waren – „wachsam aber blind, von Albträumen geplagt, aber unfähig, die Realität der Gräuel zu erkennen, die sie in Kürze in die Welt setzen sollten.“

Dass alle oder jedenfalls viele der damals Verantwortlichen Schlafwandler waren, ist nun keine Entschuldigung derjenigen, die den Krieg willentlich herbeigeführt haben.

Für manchen Kritiker von Christopher Clark ist die Schuld der Deutschen zu unterbelichtet. Für die serbischen Nationalisten wiederum ist die Schuld der Serben zu überbelichtet.

So meinte der deutsche Historiker Gerd Krumreich: „Der deutsche Michel hat in Christopher Clarks ‚Schlafwandlern‘ sehr tief geschlafen“.

Was nun die Kritik aus Serbien betrifft, so möchte ich klar sagen, dass ich diese Kritik für nicht gerechtfertigt halte. Es gab unzweifelhaft in der Zeit vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs einen spezifischen aggressiven Nationalismus in Serbien.

Und es gab ihn auch während des sogenannten Jugoslawienkriegs nach dem Zusammenbruch dieses Vielvölkerstaats. Jeder, der so wie ich selbst, Sarajevo während dieser kriegerischen Auseinandersetzungen besucht hat, wird das bestätigen können.

Und mein leider schon verstorbener Freund, der ehemalige Bürgermeister von Belgrad, Bogdan Bogdanovic, der in Wien Zuflucht gefunden hat, war ein unfreiwilliger Zeuge und ein Opfer dieses Nationalismus.

Aber Serbien hatte in dieser Region nie das Monopol auf den Nationalismus und es gibt nichts Genetisches an diesem Nationalismus.

Es ist überdies ein großer Verdienst von Politikern wie Zoran Djincic, Boris Tadic aber auch Ivica Dacic, Serbien aus diesem Nationalismus hinausgeführt zu haben. Und auch der jüngste Wahlsieger Aleksander Vucic hat versprochen, diesen Weg weiter zu gehen. Und wir sollten ihn dabei unterstützen.

Entscheidend für die Anerkennung durch die Jury ist meiner Meinung nach die Analyse der Komplexität der Verhältnisse zum Zeitpunkt des Attentats von Sarajevo und der Entscheidungsprozesse in den europäischen Hauptstädten nach dem Attentat bis zum Kriegsausbruch.

Und dabei geht es nicht nur um die objektiven Faktoren, sondern im Wesentlichen um die verschiedenen Narrative der Hauptakteure, in die diese die Fakten eingeordnet und bewertet haben.

Die Österreicher hielten sich selbst als Garant für die Stabilität in Mittel- und Osteuropa und die Serben hielten sie für eine Nation von Banditen und Königsmörder.

Die Serben wiederum waren so wie manche andere von der Notwendigkeit des Niedergangs der Donaumonarchie überzeugt.

Die einzelnen Narrative, geprägt von Selbstüberschätzung und Vorurteilen, haben die Sicht auf die realen Entwicklungen und auch auf mögliche Streitbeilegung verdeckt.

Hinzu kommt, dass zum damaligen Zeitpunkten die „politischen Entscheidungsprozesse in den von der Krise betroffenen Staaten häufig alles andere als transparent“ waren.

Man müsste vielleicht besser sagen: noch weniger transparent waren, als es sie heute sind!

Immer wieder betont Christopher Clark die komplexen Zusammenhänge, die in ihrer Verstrickung zur Katastrophe des Ersten Weltkriegs geführt haben.

Normalerweise reduzieren wir ja absichtlich die Komplexität, um die Dinge besser verstehen zu können. Clark macht das Gegenteil: er führt uns die Komplexität der Ereignisse und der Entscheidungen vor Augen, um sie besser nachvollziehen zu können.

Und genau das macht er sehr anschaulich bezüglich aller Länder und aller Hauptakteure. Manche in vielen Werken vernachlässigte Kleinigkeiten geben dabei einen tiefen, unverzichtbaren Einblick in diese den Verlauf der Ereignisse bestimmende Komplexität.

Aber jedenfalls gibt es eine klare Schlussfolgerung für Christopher Clark, die ich manchen internationalen Akteuren ins Stammbuch schreiben möchte: „Kein einziges der Anliegen, für die die Politiker von 1914 stritten, war die darauffolgende Katastrophe wert.“

Und damit bin ich wieder bei meinem Eingangsthema, den Lehren aus dem Vorlauf zum Ersten Weltkrieg, wie ihn Christopher Clark schildert, für die heutige Krise.

Dabei muss man mit solchen Lehren sehr vorsichtig sein. Wie oft wird zum Beispiel heute „München“ zitiert, will man einen Kompromiss, der immer mit Nachgeben verbunden ist, kritisieren und verächtlich machen.

Ich erwähnte schon den Essay Clark im Spiegel, der jedenfalls mit „Klüger als vor 100 Jahren“ übertitelt wurde.

Christopher Clark verweist auch hier auf eine hohe Komplexität, wenn er meint: „Das Problematische der aktuellen Krise besteht nun genau darin, dass sich sehr unterschiedliche Stränge verbinden: innerstaatliche Unruhen, geo-politische Spannungen und imperiale Expansion.“

Und weiters meint er: „Jede Lösung der Krise muss die sehr unterschiedlichen Zwänge berücksichtigen, die sich aus diesen vielfältigen historischen Strängen ergeben.“

Jedenfalls zeigt uns die heutige Krise wie das Attentat von Sarajevo, dass plötzliche sehr schwer vorhersagbare Ereignisse uns vor neue Herausforderungen stellen.

Man kann nun nicht von allen Akteuren verlangen, dass sie die gesamte Komplexität der Situation erfassen und alle Interessen berücksichtigen. Soweit sind wir leider noch lange nicht.

Aber um Christopher Clark abzuwandeln: „Kein einziges Anliegen, für das die heutigen Politiker streiten, wäre eine Katastrophe wie die von 1914 Wert.“

Bzw. hoffe ich, dass „die heutigen Protagonisten wachsamer, weniger blind und von Albträumen geplagt sind und fähiger sind, die Realitäten der Gräuel zu erkennen, die sie in die Welt setzen könnten!“

Man kann durchaus aus der Geschichte lernen, wenn man Bücher wie das von Christopher Clark aufmerksam und ohne Vorurteile liest. Vielleicht sollte man den heutigen Protagonisten Gratisexemplare zusenden.

Es geht nicht darum, völkerrechtswidrige Handlungen zu akzeptieren oder gar zu rechtfertigen. Das, was Putin gemacht hat – und es handelt sich ja nicht um die erste Okkupation bzw. Annexion – darf nicht akzeptiert werden.

Aber man muss auch festhalten, dass Putin zwar die Krim momentan „gewonnen“ hat, aber sein Lieblingsprojekt die „Eurasische Union“ verloren hat.

Was aber in diesem Zusammenhang zu unterstreichen ist, ist die Illusion, man könne Konflikte militarisieren und dann kontrollieren. Der deutsche Kanzler von Bethman Hollweg meinte 1914:

„Wir wünschen dringend eine Lokalisierung des Konflikts, weil jedes Eingreifen einer anderen Macht infolge der verschiedenen Bündnisverpflichtungen unabsehbare Konsequenzen nach sich ziehen würde.“

Das war allerdings ein frommer Wunsch. Es kam 1914, wie wir heute wissen, anders. Und es könnte 100 Jahren danach ebenfalls ein frommer Wunsch bleiben. Und angesichts von Atomwaffen wären die Konsequenzen heute noch tragischer.

Ich habe allerdings meine Zweifel, ob Schlafwandler eifrige Leser sind. Aber man soll die Hoffnung nie aufgeben. Aber man sollte ihnen deutlich vermitteln, dass militärische Konflikte einmal begonnen, schwer zeitlich begrenzt und als lokale Konflikte geographisch eingegrenzt werden können.

So wie Roger Cohen in der heutigen International New York Times mit Hinweis auf die Ereignisse in der Ukraine und auf Sarajevo 1914 schreibt: „The unthinkable is thinkable. Otherwise it may occur.“

Das war schon beim Ersten Weltkrieg so und könnte heute genauso sein. Seien wir vorsichtig und warnen wir von den Schlafwandlern, auch sie können gefährlich sein.