Sozialdemokratie, europäische Identität und Islam

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Kairo

Innerhalb der Führungsgremien meiner SPÖ-Bezirksorganisation Wien 12 gibt es viele mit einem christlichen Glaubenbekenntnis, aber auch strenge und weniger strenge Muslime, Mitglieder der israelitischen Kultusgemeinde, aber auch Agnostiker und Atheisten. Einer aus der letzten Gruppe meint immer wieder, wir sollten als Sozialdemokraten eine traditionell(?) antiklerikale Linie vertreten und uns gegen Religionen aussprechen. Getreu dem Motto: Religionen sind Opium für das Volk. Das jedenfalls ist nicht meine Meinung. Ich sehe die Dinge viel differenzierter.

Die allgemeine Debatte heute ist allerdings weniger eine über Religionen allgemein, sondern eher eine über den Islam und seine Rolle in Europa. Die jüngste Abstimmung über ein Verbot des Baus von Minaretten in der Schweiz hat der Islamdebatte wieder eine verstärkte Aktualität verliehen. In Frankreich hat Präsident Sarkozy hingegen eine Debatte über die nationale Identität angefacht und einen aus dem sozialistischen Lager kommenden Minister für diese Debatte und die daraus zu folgenden Maßnahmen verantwortlich gemacht. Auch bei dieser Diskussion geht es vorrangig um die Zuwanderer aus islamischen Ländern und deren Rechte und Pflichten. Nicht nur die französischen Sozialisten tun sich mit dieser Auseinandersetzung schwer.
Anlässlich des Ergebnisses der Abstimmung in der Schweiz meinte der ehemalige deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder: „Europas Blick auf den Islam ist immer noch geprägt von Angst und Unwissen“. In seinem Beitrag in der Zeitung „Die Zeit“ meint er vor allem, dass die historische Erfahrung Europas uns zur Toleranz verpflichtet. „Menschen aus anderen Ländern und Kulturen, die bei uns leben und leben wollen, müssen sich klar und unmissverständlich zu unserer Rechtsordnung und unseren demokratischen Spielregeln bekennen. Nicht ohne Grund bezeichnen wir die Werte der Demokratie und der Aufklärung als universelle Werte. Und das sind Werte, die auch diejenigen akzeptieren und verinnerlichen müssen, die aus einer anderen Kultur stammen. (…) Aber Integration bedeutet nicht Assimilation. Sie darf nicht bedeuten, kulturelle und religiöse Unterschiede beseitigen zu wollen.“

Die von türkischen Eltern stammende deutsche Soziologin Necla Kelek hat diesen Ansatz unter dem Titel „Gerhard Schröders fauler Frieden“ scharf kritisiert: „Seine Haltung ist die eines Machtmenschen, der Probleme relativiert und Werte formuliert, wenn sie ins politische Kalkül passen. Diese Haltung hat nicht nur die Sozialdemokratie und die Sozialarbeit auch in der Integrationsarbeit jahrzehntelang vor sich hergetragen. Die muslimischen Migranten, so wurde unterstellt, sind noch nicht soweit, wir können von ihnen nicht zuviel Eigenverantwortung verlangen.“ Der Islam ist ein „System“ und nicht nur eine private Religionsangelegenheit und daher viel kritischer zu sehen.
In der Tat stellt sich die Frage, inwieweit sich „der“ Islam an die unterschiedlichen Lebensbedingungen in Europa anpassen kann oder will bzw. inwieweit sich die Muslime der von Schröder geforderten „Akzeptanz und Verinnerlichung“ der universellen Werte unterziehen wollen. Der in Ägypten geborene Politikwissenschaftler und Historiker Hamed Abdel-Samed fragt daher unter der Überschrift „Vom Glauben zum Wissen“ in der Neuen Zürcher Zeitung: „Wie findet der Islam zur Moderne?“ Er fordert die Muslime auf, sich „vom Bild eines erhabenen, unberechenbaren Gottes, der nur diktiert, aber nicht verhandelt“ zu verabschieden und die „Allmacht des Korans zu bestreiten“. Und in der Folge meint er: „Islamkritik sollte von den Europäern ohne Rücksicht auf fundamentalistische Bedrohungen und ohne politisch korrekte Denkfaulheit vorangetrieben werden.“ Sie muss allerdings ohne Polemik und Ressentiment daherkommen. Am besten wäre es natürlich, diese Aufgabe der Kritik würde von den Muslimen selbst in die Hand genommen werden.

Nur, wer sind diese Europäer, die diese kritische Auseinandersetzung mit „dem“ Islam sinnvoller weise führen können? Die christlichen, die jüdisch gläubigen, die ungläubigen oder nur die muslimischen Europäer? Oder alle zusammen? Sicher haben alle ein Recht dazu, wenn sie versuchen, ohne Polemik und Ressentiment an die Sache heranzugehen. Gerade das aber war weder bei der Minarettdebatte in der Schweiz noch ist es bei den radikalen Äußerungen der FPÖ der Fall.
Der Sozialdemokratie jedenfalls sollte es ja ums helfen, um eine fruchtbare Begegnung des Islam mit der Moderne und der Aufklärung und nicht um eine politische Instrumentalisierung von Ängsten und Vorurteilen gehen. Und genau darauf hat Gerhard Schröder aufmerksam gemacht, wenngleich er manches an den islamischen Ländern zu rosig sieht. Und da möchte ich ihn schon gegen eine simple islam-feindliche Kritik, die von einer „Konvertitin“ kommt, verteidigen. Zwar muss gerade die Sozialdemokratie bereit sein, eine kritische Diskussion zu führen, die aber niemals den Pfad der Toleranz und der Religionsfreiheit verlassen darf.

Der Islam bzw. die MigrantInnen aus islamischen Ländern spielen auch in der Debatte um die nationale Identität in Frankreich eine zentrale Rolle. Dies wurde von Sarkozy unter anderem mit der Gründung eines eigenen Ministeriums begonnen. Sie passt in sein populistisches Konzept, emotionelle Fragen aufzugreifen und sie zu instrumentalisieren. Aber wie andere Populisten und Medien (siehe die Kronenzeitung) versteht er es, bestehende Ängste anzusprechen und sie entsprechend zu verstärken. Aber eben weil es bestehende Ängste sind, die er aufgreift, tut sich vor allem die sozialistische Opposition mit dieser Debatte schwer. Was Sarkozy im Generellen sagt, ist auch keineswegs zu verwerfen, im Gegenteil. Wenn er zum Beispiel meint, dass man diejenigen zu respektieren hat, die zuwandern, aber dass diese wiederum diejenigen und deren Werte respektieren müssen, die sie empfangen, so ist dem klar zuzustimmen.
Denn die empfangende Bevölkerung „will ihr Erbe, ihre Geschichte, ihre Zivilisation und ihre Lebensart mit den Zuwandern teilen“. Es geht also um das gemeinsame Zusammenleben und nicht um getrennte und parallele Lebenswelten. Und in der Folge sollte es zu einer gegenseitigen Bereicherung kommen, im Sinne einer erfolgreichen Assimilation auf der Basis der Gleichheit von Mann und Frau und der Trennung von Staat und Religion, also eines laizistischen Staates. Diese Trennung bedeutet nach Sarkozy keine Ablehnung der Religionen, sondern eine Äquidistanz und einen gleichen Respekt allen Religionen gegenüber. Dennoch sollten auch die Muslime anerkennen, dass das Christentum in der nationalen Identität Frankreichs besonders starke Spuren hinterlassen hat.

Als Sozialdemokraten würden wir natürlich an erster Stelle die Aufklärung erwähnen, wenn wir von den Spuren in unserem Erbe und unserer Identität sprechen. Aber sicherlich ist das Christentum nicht aus unserer Identitätsbildung hinwegzuleugnen. Und überdies zielen wir auf Integration und nicht auf Assimilation, wenngleich die Unterschiede nicht so scharf sind wie das oft dargestellt wird. Aber es gibt natürlich noch einen anderen Einwand gegen die Debatte über die „nationale Identität“.
Viele Intellektuelle in Frankreich haben auf die Rückwärtsgewandtheit dieser Debatte aufmerksam gemacht. Denn heute sollte es nach all den Verfehlungen und Katastrophen des europäischen Nationalismus um die Gründung einer europäischen Identität gehen und nicht um eine Stärkung der verschiedenen nationalen Identitäten. Aber das von Sarkozy zu verlangen, wäre zu viel.

Gerade aber hier sollte die europäische Sozialdemokratie ansetzen. Eine europäische Identität wäre viel offener und toleranter hinsichtlich des Zusammenlebens. Auch was die Religionen betrifft, denn Christentum, Judentum und der Islam haben zur europäischen Identität beigetragen. Und sie wäre viel zukunftsorientierter als die verschiedenen nationalen Identitäten. Sie wäre auch an der Fähigkeit zu messen, global zu bestehen und wirken zu können. Denn sie müsste den globalen „Wettbewerb der Kulturen“ bestehen, und das könnte sie nur durch eine Kombination von Offenheit hinsichtlich verschiedener Religionen und Lebensformen mit einem klaren Bekenntnis zu den universellen Werten, die uns besonders wichtig sind, geschehen.
Dabei bleiben natürlich nationale, aber auch regionale Besonderheiten bestehen, und das sollte auch so sein. Denn diese gehören zur Vielfältigkeit und damit zur europäischen Identität. Genau diese Verknüpfung von Vielfältigkeit, Toleranz und klar formulierten Werten – inklusive der sozialen – macht die europäische Identität aus. Und die Notwendigkeit, sich auch global zu behaupten, sollte dann auf die nationalen Identitäten, die immer Gefahr laufen, sich einzuigeln und nur nach innen zu schauen, Einfluss ausüben.

Die europäische sozialdemokratische Bewegung sollte sich hier klar für die Erarbeitung einer solchen europäischen Identität positionieren. Sie stand immer auf der Seite der Freiheit und der Gleichheit der Chancen und hat die sozialen und humanistischen Werte in ihren Programmen und der politischen Praxis vertreten. Das sollte jetzt nicht aufgegeben werden, sondern zur Gestaltung einer europäischen Identität verwendet werden. Und von einer solchen Wertebasis aus ist auch die Debatte über die Rolle des Islam in Europa leichter zu führen. Dazu gehört ebenso ein Meinungsaustausch zwischen den verschiedenen europäischen Staaten und Mitgliedsparteien über „best practice“ Modelle der Integration in unseren Gesellschaften.

Die verschiedenen nationalen sozialdemokratischen Parteien sollten vor allem in den Städten und Gemeinden die Grundsätze einer europäischen formulierten und definierten Integrationspolitik umsetzen und so zur Herausbildung einer glaubhaften europäischen Identität beitragen. So kann und muss gerade die Integration unserer – islamischen – Zuwanderer einen Beitrag dazu leisten, einerseits die europäische Identität zu stärken und anderseits Europa von „oben“ und „unten“ zu gestalten, also zum Beispiel gleichzeitig und gleichgewichtig von Brüssel und Wien aus oder, wenn man will, von Wien und Brüssel aus.