In Moskau III

L1000076Mehrere Gespräche, die wir in Moskau führten, drehten sich weniger um die Wahlen, sondern eher um die allgemeine wirtschaftliche und soziale Lage. Dabei muss ich vorausschicken, dass alle unsere Gesprächspartner uns auf die wirtschaftliche und politische Lage in der EU ansprachen. Bei früheren Gelegenheiten waren wir eindeutig die Stärkeren und konnten auch aus einer Position der Stärke Russland beurteilen und auch kritisieren. Jetzt mussten wir auch über unsere eigenen Probleme sprechen und unsere Lösungsvorschläge darlegen. Dabei war allerdings keines unserer Gegenüber hämisch oder schadenfroh. Allzu sehr ist Russland vom Wachstum und von einer erfolgreichen Krisenbekämpfung in Europa abhängig. Sie wollen schließlich Energie und vor allem Gas exportieren und auch sonst eine gute Entwicklung des europäischen Marktes.

Zukunftsentwurf

Ein großes Problem stellt die demographische Entwicklung dar. Die schrumpfende Bevölkerung Russlands und der Abwanderungstrend junger und gut ausgebildeter Menschen bedroht die Innovations- und Wachstumskraft des Landes. Auch die hohen Öl- und Gaspreise sind keineswegs nur von Vorteil. Der Vorsitzende einer Arbeitsgruppe, die für Putin einen Zukunftsentwurf für das Land machen soll, meinte, niedrigere Energiepreise seien für das Land weit vorteilhafter, sie würden die Diversifizierung und Modernisierung der Wirtschaft vorantreiben und damit die Abhängigkeit von einer endlichen Ressource vermindern.
Dieselbe Meinung vertraten auch zwei Unternehmer, die wir als Vertreter der Europäischen Business Community in Russland zu einem Gespräch trafen. Der eine, ein Finne, ist Besitzer eines mittleren Unternehmens. Er lebt seit 20 Jahren in Russland und hat dort sein Unternehmen erfolgreich aufgebaut. Der andere, ein Spanier, ist Manager eines spanischen Unternehmens, das sehr erfolgreich in Russland expandiert – zusätzlich zu seinen europäischen Niederlassungen und nicht anstatt. Beide beklagten die mangelnde Dynamik der russischen Unternehmungen, vor allem der alten aus der Sowjetzeit herübergeretteten. Und sie beklagten auch die Bürokratie, insbesondre in Moskau. Insgesamt allerdings waren sie optimistisch, da sie in den letzten Jahren hohe Wachstumsraten realisieren konnten. Für die nächste Zeit erwarteten sie zwar geringere Wachstumsraten, aber dafür wachsende Marktanteile, da die russischen Unternehmer dem Konkurrenzdruck nicht standhalten könnten.

WTO-Beitritt

Da lag meine Frage auf der Zunge: und wie wird es dann mit dem Beitritt Russlands zur Welthandelsorganisation werden? Der Unternehmer sah dies optimistisch, der Manager allerdings meinte, dass der WTO-Beitritt eine Öffnung des russischen Marktes bedeutet. Damit würden mehr ausländische Produkte nach Russland kommen und russische Produkte verdrängen. Umgekehrt allerdings sind die russischen Produkte nicht auf die ausländischen und vor allem europäischen Märkte vorbereitet. Was Russland aber braucht, sind mehr ausländische Investitionen und nicht so sehr ausländische Produkte. Er befürchtete sogar sozialen Unmut, insbesondere in Folge der höheren Arbeitslosigkeit. Noch fehlt die endgültige Entscheidung, vor allem hinsichtlich einiger offener Fragen zwischen Russland und Georgien. Aber leicht wird ein Beitritt Russlands zur WTO nicht zu verkraften sein.

Moskau, 3.11.2011