Ungleichheit teilt die Gesellschaft

swoboda_strassburg0404_zinner-081Die Diskussionen über das Projekt 2020 werden durch die Überlegungen zur Lösung der Wirtschaftskrise allgemein und der wirtschaftlichen und finanziellen Probleme Griechenlands im Besonderen überlagert. Dennoch stehen diese Probleme bzw. Zielsetzungen in engem Zusammenhang. In zwei Kommentaren, zu denen ich von der Zeitschrift Format eingeladen wurde, habe ich versucht, einige Lehren aus der Krise zu ziehen (siehe Anhang zu diesem Beitrag).
Was nun Griechenland betrifft, hat man beim letzten Gipfel eine „Lösung“ gefunden – allerdings handelt es sich um einen schwierigen Kompromiss, der nicht sehr überzeugend ist. Wirkliche Lösungen, die ein Hineinschlittern in extreme Defizite in Zukunft nach Möglichkeit verhindern sollten, wurden nicht gefunden, ja nicht einmal angedacht. Visionär war jedenfalls nichts an dem Vorschlag, wann und wie man Griechenland im Notfall helfen wolle. Mit Recht verweist einer der Direktoren der Europäischen Zentralbank, der Italiener Lorenzo Bini Smaghi, der mich auch bei meinem Besuch in der EZB in Frankfurt beeindruckte, dass eine rein fiskalische Herangehensweise zu kurz greift.
„Wir müssen unsere Analyse erweitern und stärker die ökonomischen Unterschiede innerhalb der Währungsunion in den Blick nehmen“, meint Bini Smaghi. Es bedarf also einer makroökonomischen Betrachtung und dann auch einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik, die darauf reagiert. Dazu allerdings, so Lorenzo Bini Smaghi, bedarf es heute „Politiker, die vorausdenken und der Bevölkerung erklären können, warum es falsch ist, sich nur auf Instinkte zu verlassen. Führung bedeutet auch, Herausforderungen nicht zu scheuen…“.
Letzteres war vor allem auf die deutsche Bundeskanzlerin gemünzt, die mehr die Regionalwahlen im Auge hat als die Zukunft Europas. Immerhin erklärte sich der letzte „Rat der Europäischen Union“, also die Staats- und Regierungschefs, bereit, „eine enge Koordinierung der Wirtschaftspolitik in Europa zu fördern.“ Wir werden sehen, was daraus wird, vor allem angesichts der Tatsache, dass der Rat selbst „seine Rolle bei der wirtschaftlichen Koordinierung und der Festlegung der Wachstumsstrategie der Europäischen Union“ ausbauen möchte.

Was nun die Strategie Europa 2020 betrifft, so hat der Europäische Rat einige Kernziele festgelegt, die im Juni 2010 beschlossen werden sollen. So heißt es in den Schlussfolgerungen:
„Unter den 20- bis 64-jährigen Frauen und Männern wird eine Beschäftigungsquote von 75 % angestrebt, auch durch die vermehrte Einbeziehung von Jugendlichen, älteren Arbeitnehmern und Geringqualifizierten sowie die bessere Eingliederung von legalen Migranten.
Die Bedingungen für Forschung und Entwicklung sollen verbessert werden – insbesondere mit dem Ziel, ein öffentliches und privates Investitionsvolumen auf diesem Gebiet von insgesamt 3 % des BIP zu erreichen; die Kommission wird einen Indikator für die FuE- und Innovationsintensität entwickeln.
Die Treibhausgasemissionen sollen gegenüber dem Niveau des Jahres 1990 um 20 % verringert werden; der Anteil der erneuerbaren Energien am Gesamtenergieverbrauch soll auf 20 % steigen, und es wird eine Erhöhung in Richtung auf eine Energieeffizienz von 20 % angestrebt.
Die EU sagt zu, einen Beschluss zu fassen, wonach sie bis 2020 eine Reduktion um 30 % gegenüber dem Niveau von 1990 erreichen will – und zwar als ihr bedingtes Angebot im Hinblick auf eine globale und umfassende Übereinkunft für die Zeit nach 2012 –, sofern sich die anderen Industrieländer zu vergleichbaren Emissionsreduzierungen verpflichten und die Entwicklungsländer einen ihren Verantwortlichkeiten und jeweiligen Fähigkeiten entsprechenden Beitrag leisten.
Das Bildungsniveau soll verbessert werden, wobei insbesondere angestrebt wird, die Schulabbrecherquote zu senken und den Anteil der Bevölkerung, der ein Hochschulstudium abgeschlossen hat oder über einen gleichwertigen Abschluss verfügt, zu erhöhen; der Europäische Rat wird die Zahlenvorgaben für diese Ziele unter Berücksichtigung des Vorschlags der Kommission auf seiner Tagung im Juni 2010 festlegen.
Die soziale Eingliederung soll insbesondere durch die Verminderung der Armut gefördert werden. Es bedarf noch weiterer Arbeiten an den geeigneten Indikatoren. Der Europäische Rat wird auf seiner Tagung im Juni 2010 auf diese Frage zurückkommen.“

Ich hoffe allerdings, dass die Ratsbeschlüsse im Juni etwas aussagekräftiger ausfallen werden. Denn weder die wirtschaftliche noch die soziale Lage der und in der Union sind heute befriedigend. Die massiven Gewinne der Hedge Fonds in Zeiten stark gestiegener Arbeitslosigkeit sind nur ein Indiz für die extreme Ungleichheit, vor allem auch in den Auswirkungen der Krise. Die langfristig zu beobachtende Erhöhung der Ungleichheit wurde keineswegs gestoppt. Aber wie eine besonders eingehende Analyse der Auswirkungen der Ungleichheit auf das Wirtschaftswachstum von Richard Wilkinson und Kate Picket zeigt, gibt es einen positiven Zusammenhang zwischen Gleichheit und wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit. Daher sollte die Frage der Einkommens- und Vermögensverteilung auch in der EU wieder stärker thematisiert werden. Das ist insbesondere eine Aufgabe der europäischen Sozialdemokratie. In einem Interview meinte kürzlich Richard Wilkinson: „Ungleichheit teilt eine Gesellschaft und reibt sie auf. Wir brauchen wieder mehr Kooperation und Gegenseitigkeit.“

Das Auftreten der EU beim Klimagipfel hat ein jämmerliches Bild abgegeben.
Hannes Swoboda, EU-Parlamentarier (SPÖ)

Wesentliche Entwicklungen im europäischen Einigungsprozess sind meist nicht durch abstrakte Überlegungen angestoßen worden, sondern oftmals durch die Unfähigkeit der EU, auf äußere Ereignisse angemessen zu reagieren. So haben die Unzulänglichkeiten während des Zerfalls Jugoslawiens schrittweise zur Stärkung der gemeinsamen Außenpolitik geführt.
Heute sind wir nicht in der Lage, für die Situation in Griechenland Lösungen herbeizuführen, es herrscht eine beschämende Kakophonie. Auch das Auftreten beim Klimagipfel in Kopenhagen hat ein jämmerliches Bild abgegeben, und das Gleiche gilt für die Ohnmacht angesichts der Einwanderungs- und Integrationsproblematik. Die Kommission, die oft mit *Sachzwängen* argumentiert, ist in ihrer nach wie vor technokratischen Ausrichtung weit überfordert. Auch die Phase des blinden Vertrauens in den Markt, der schon alles regeln wird, ist vorbei. Und die Regierungen der Mitgliedsstaaten sind zu sehr in ihre nationalen Ambitionen verstrickt und heute europapolitisch mutloser als je zuvor.
Europa muss daher einen wesentlichen Schritt nach vorne gehen und wieder ein politisches Projekt werden, das den globalen Entwicklungen nicht hoffnungslos ausgeliefert ist, sondern aktiv ins Geschehen eingreift. Da wir gerade erst einen *Verfassungsprozess* hinter uns haben, müssen Rat, Parlament und Kommission in enger Kooperation das Politische und damit Demokratische in die EU zurückholen.
Wir haben hoffentlich bald eine *De-facto-Außenministerin*. Denkbar ist auch, dass der Vorsitzende der Eurogruppe, Jean-Claude Juncker, gemeinsam mit dem zuständigen Kommissar die Doppelführung eines *Finanzministeriums* für den Euroraum abgeben könnte. Für die innere Sicherheit ist ein ähnliches Modell möglich. Man müsste nur ein bisschen erfinderisch und mutig sein.
Quelle: Format“ Nr. 12/10 vom 26.03.2010, Debatte: Muss die EU politischer werden?
Wenn Spekulanten das Ungleichgewicht von Staaten ausnützen, führt das zu Problemen.
Hannes Swoboda, Eu-Parlamentarier (SPÖ)

Viele haben uns davor gewarnt, dass die Einführung des Euros ohne gemeinsame, stärker koordinierte Wirtschafts- und Finanzpolitik in einer Katastrophe enden kann. Die Mängel einer solchen lückenhaften, halbherzigen Strategie haben sich anhand der Krise in Griechenland mehr als deutlich zu erkennen gegeben.
Heute ist der Euro in Gefahr. Wenn die Finanzmärkte gut funktionieren und sich die spekulativen Tendenzen in Grenzen halten, fällt das Ungleichgewicht zwischen vorhandener Währungsunion und fehlender Wirtschaftsunion nicht auf. Nützen aber Spekulanten dieses Ungleichgewicht gezielt aus, dann kann dies zu massiven Problemen führen. Insbesondere dann, wenn die Liberalisierung der Finanzmärkte das oberste Gebot der *Politik* bleibt. Denn in diesem Fall beraubt sich die Politik selbst aller Möglichkeiten, diesen nicht nur unmoralischen, sondern auch ruinösen Spekulationen entgegenzutreten.
Deshalb muss der Euro rasch um eine gemeinsame Wirtschaftsunion ergänzt werden. Kommission und Rat sollten sich mit Unterstützung durch das EU-Parlament endlich durchringen, eine Art *Wirtschaftsregierung* zu installieren, die die Währungsunion abstützt, die Finanzmärkte reguliert, Fehlentwicklungen in den Ländern verhindert und dabei einen permanenten Dialog mit der Europäischen Zentralbank führt. Dazu braucht es Visionen, Mut und den Willen zur Veränderung * allerdings heutzutage wenig populäre Eigenschaften. Nicht allein Griechenland bringt den Euro ins Wanken, sondern die Untätigkeit der Europäischen Politik. Scheitert der Euro, dann würden davon nicht nur Spekulanten, sondern auch Länder wie die USA oder China profitieren. Wer das will, soll weiter eifrig an der Verhinderung einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik arbeiten. Als europäischer Sozialdemokrat hingegen will ich den Euro, ja Europa und seine Wirtschaftskraft sichern.
Quelle: Format“ Nr. 09/10 vom 05.03.2010, Debatte Griechenland-Krise: Ist jetzt auch der Euro am Ende?