An der Grenze der Demokratie

Bei allem Liberalisierungswillen wird in Georgien zu wenig getan, um eine positive Wirtschaftspolitik zu entwickeln.
Die sitzungsfreie Woche des Europäischen Parlaments Ende Mai habe ich dazu genützt, um gemeinsam mit meinem Kollegen Jan Marinus Wiersma vor allem zwei Länder zu besuchen: Georgien und Aserbaidschan.

Südkaukasus

Diese Länder des Südkaukasus sind in die so genannte europäische Nachbarschaftspolitik eingegliedert. Sowohl die wirtschaftlichen als auch die politischen Entwicklungen in diesen beiden Staaten können – je nach dem – positive oder negative Rückwirkungen auf die Europäische Union haben. Wir haben deshalb seitens des Europäischen Parlaments darauf gedrängt, eine Nachbarschaftspolitik zu entwerfen, die vor allem auch die k zum Teil Krisen geschüttelten Länder des Südkaukasus mit einbezieht.
Erst vor wenigen Wochen bin ich in Armenien gewesen, und schon vor längerer Zeit besuchte ich mit einer offiziellen Delegation des Europäischen Parlaments auch Aserbaidschan. Vorgestern Nacht kam ich nun in Georgiens Hauptstadt Tiflis bzw. Tbilisis, wie sie in der Landessprache heißt, an. Georgien ist in früheren Zeiten als das Heimatland von Josef Stalin bekannt gewesen. Zuletzt gelangte es durch die so genannte Rosenrevolution, die „Rose Revolution“ zu Ruhm – einer allgemeinen friedlichen Veränderung des gesellschaftspolitischen Systems von einem autokratischen postsowjetischen System unter dem früheren Außenminister Schewardnadse in Richtung einer westlichen Demokratie. Ich habe in Georgien allerdings auch etliche Gegenargumente dazu zu Hören bekommen, aber dazu später.

Regierung und Opposition

Der erste Tag unseres Besuches war durch Treffen mit VertreterInnen aus der Politik geprägt. Auf der einen Seite stand dabei die Regierungskoalition und Regierungspartei von Präsident Micheil Saakaschwili, auf der anderen Seite die Opposition. Seitens der Regierungspartei war zweifellos das Gespräch mit Parlamentspräsidentin Nino Burdshanadse am eindrucksvollsten. Sie ist eine äußerst gewandte und modern orientierte Politikerin, die bestens informiert ist und sich sehr klar artikuliert. Burdshanadse hat die unter Präsident Saakaschwili vorgenommenen Veränderungen unmissverständlich verteidigt, auch wenn sie darauf hinwies, dass es noch einige offene Fragen gibt und weitere Reformen notwendig sind.
Ein ganz anderes Bild vermittelten die VertreterInnen der verschiedenen Oppositionsparteien. Es handelt sich zum überwiegenden Teil um Personen, die bei der Revolution und der Vertreibung von Schewardnadse gemeinsame Sache mit Saakaschwili gemacht haben. Sie haben allerdings dessen autoritären Führungsstil und die Vernachlässigung der Reformen im Justizwesen stark kritisiert.

Von der Botschafterin Frankreichs zur georgischen Außenministerin

Besonders erwähnen möchte ich in diesem Zusammenhang die Politikerin Salomé Zourabishvili. Sie hat einen interessanten Lebenslauf vorzuweisen, den ich in groben Zügen bereits aus den Medien kannte. Vor wenigen Tagen ist mir in Straßburg ihre Autobiografie in die Hände gefallen, sodass ich mich im Vorfeld dieser Reise noch intensiver mit dieser Politikerin beschäftigen konnte.
Zourabishvili stammt aus einer georgischen Familie in der Diaspora, ist in Frankreich aufgewachsen und dort in den diplomatischen Dienst eingetreten. In der Folge war sie Botschafterin, unter anderem in Georgien selbst und wurde von Präsident Saakaschwili schließlich zur Außenministerin berufen, nachdem dieser Chirac um Erlaubnis gebeten hatte, die französische Botschafterin in Georgien zur Außenministerin des Landes zu ernennen. Das ist zweifellos ein ungewöhnlicher, wenn nicht einmaliger Fall. Wenn man diese Frau mit ihrer Intelligenz und ihrer Art sich auszudrücken persönlich kennen gelernt hat, kann man das nachvollziehen.

Persönlicher Wermutstropfen

Für mich gibt es allerdings einen persönlichen Wermutstropfen. In ihrer Autobiografie schreibt Salomé Zourabishvili sehr negativ über Wien, wo sie sich nach eigenen Angaben absolut nicht wohl gefühlt hat. Sie gibt zwar zu, dass das auch an ihr selbst gelegen haben mag, etwa an ihrer Ungeduld, dass die Entwicklungen in Georgien schneller voran gehen sollten. Auch die Tatsache, dass ihre Familie in Frankreich lebte und sie sich zerrissen und nirgendwo zu Hause gefühlt hat, mag eine Rolle gespielt haben. Sie zeigte zudem einige zweifellos richtige Punkte auf, etwa, dass sich Hunde in Wien wohler fühlen als Menschen und auch besser als diese behandelt werden.
Insgesamt ist mir aber Zourabishvilis Kritik zu scharf und tut mir als begeistertem Wiener weh. Und trotzdem muss man diese Kritik zur Kenntnis nehmen, auch wenn sie damit ziemlich alleine dasteht und wohl auch über weite Strecken auf ihre persönliche Situation zurückzuführen ist. Ihre Kritik an Präsident Saakaschwili, der sie nach einiger Zeit wieder vom Auenministeramt enthoben hat, scheint mir hingegen moderat und angemessen und keineswegs von Hass erfüllt, wenngleich die Distanz zu spüren ist.

Kritik an Präsident Saakaschwili

Auch beim Arbeitsabendessen und beim Treffen mit NGO-VertreterInnen fiel immer wieder Kritik an Präsident Saakaschwili, vor allem an seinem autokratischen Führungsstil und seiner mangelnden Reformbereitschaft. Die NGOs sind zum großen Teil Mitkämpfer für die Revolution des Präsidenten gewesen, und etliche der heute amtierenden Minister kommen direkt aus den reihen dieser NGOs. Die vorgebrachte Kritik war in diesem Sinn auch entsprechend fundiert.
Besonders aufgefallen ist mir in diesem Zusammenhang Anna Dolice, Repräsentantin des georgischen Vereins der jungen Juristen. Sie kritisierte massiv, zweifellos aus Enttäuschung über den Verlauf der Revolution, aber zugleich mit sehr konkreten Beispielen – etwa einem Mangel an Unabhängigkeit der Justiz – das extrem repressive und selektive Vorgehen der Steuerpolizei.

Extreme Liberalisierung

Das Vorgehen der Steuerpolizei war auch von vielen Investoren, mit denen wir uns schon am Vormittag getroffen hatten, kritisiert worden, und zwar vor allem vom Vertreter der Klein- und Mittelbetriebe. Er berichtete uns, dass immer wieder Märkte von heute auf Morgen geschlossen, aber keine entsprechenden Alternativen angeboten werden. Bei allem Verständnis für das Eintreiben von Steuern: Diese Vorgangsweise der Polizei generell, aber vor allem der Steuerpolizei ist nicht akzeptabel.
Die Minister, insbesondere der Wirtschaftsminister, sahen das naturgemäß anders und stellten ausschließlich die positiven Seiten dar. Sie propagierten eine extreme Liberalisierung und sprachen sich für eine weitgehende Abkehr von den bestehenden Vorschriften aus. Ich habe bisher noch nie ein derart liberales Credo vernommen wie von den VertreterInnen dieser Regierung. Und das, obwohl beispielsweise eine der stellvertretenden WirtschaftsministerInnen früher sogar als Mitarbeiterin einer deutschen sozialdemokratischen Europaabgeordneten gearbeitet hat. Wirtschaftsminister Kacha Bendukidse selbst präsentierte sich äußerst eindrucksvoll. Von massiver Statur und freizeitmäßig gekleidet hat dieser aus der Wirtschaft kommende Politiker die gesamte Palette seiner liberalen Wirtschaftsphilosophie auch mit entsprechender körperlicher Präsenz dargelegt.

Notwendiges Gleichgewicht fehlt

Nun, ich kann durchaus nachvollziehen, dass man in einem sowjetischen bzw. postsowjetischen System radikale Mittel anwenden muss, um die Wirtschaft in Gang zu bringen und Korruption, die in der Regel mit Vorschriften verbunden ist, abzubauen. Umgekehrt ist es zweifellos auch notwendig, Steuern einzutreiben, um eine Finanzierungsquelle für den Staat sicherzustellen. Insgesamt fehlt aber aus meiner Sicht das notwendige Gleichgewicht in etlichen Fragen wie der Unabhängigkeit des Justizsystems, aber auch bei der Reform des Wahlrechtes.
Ich habe den Eindruck, dass es in erster Linie um eine auf die Macht und den Einfluss des Präsidenten konzentrierte Strukturierung des gesamten politischen Systems geht. Im Vordergrund stehen dabei ganz offensichtlich völlige Liberalität, Offenheit und Freiheit im Wirtschaftsbereich sowie eine sehr stark an Präsident Saakaschwili und seiner Partei orientierte Reformpolitik. Unter den gegeben Voraussetzungen passiert all dies allerdings an der Grenze der Demokratie. Im Parlament ist bereits mehr als die Zweidrittelmehrheit gegeben. Es werden Reformen im Lokal- oder Regionalbereich vorgenommen, die eindeutig mehrheitsfördernd sind. Und in den Wahlkommissionen werden politische VertreterInnen durch Beamte ersetzt. Das alles ist in Zusammenhang mit den bestehenden Mehrheitsverhältnissen äußerst problematisch.

Abchasien und Südosetien

Ein Thema spielte in unseren Gesprächen eine übergeordnete Rolle. Zwei Gebiete Georgiens haben sich nach der Unabhängigkeit losgelöst, was wohl kaum ohne den entsprechenden Einfluss geschehen ist. Heute jedenfalls genießen diese beiden Regionen die Unterstützung Russlands. Es handelt sich um Abchasien und Südosetien. Beide Gebiete sind de facto unabhängig oder unter russischem Protektorat. Es ist Georgien nicht gelungen, bei den ersten Ansätzen der Unabhängigkeitsbewegungen Angebote zu machen, die die beiden Gebiete, die eine unterschiedliche ethnische Zusammensetzung haben, motivieren, in Georgien zu verbleiben. Und auch bis heute sind keine diesbezüglichen Fortschritte zu verzeichnen.
Wir sprachen darüber vor allem mit dem Minister für Konfliktresolution, der mir allerdings hinsichtlich einer Lösung dieser beiden Konflikte weder offen noch besonders ideenreich erschien. Es hieß lediglich, der Westen müsse helfen und etwas gegen Russland unternehmen. Außerdem wurde gefordert, Georgien in die Nato aufzunehmen, um dadurch den Schutz des Landes sicherzustellen. Mein Kollege Jan Marinus Wiersma, der aus dem Nato-Land Niederlande stammt, reagierte darauf skeptisch. Er meinte, man könne nicht erwarten, die Nato würde ein Land aufnehmen, das in einer derart konfliktreichen Situation mit Russland steht. Unsere Gesprächspartner erwiderten, dass bereits die Vorbereitung auf eine mögliche Aufnahme Georgiens im Falle der Erfüllung der erforderlichen technischen Bedingungen dazu führen würde, dass Russland sich von den beiden Gebieten zurückzieht und dadurch eine friedliche Lösung ermöglicht wird.

Blockade-Situation

Am letzten Tag unseres Besuches in Georgien haben wir VertreterInnen der OSCE-Mission getroffen. Sie bemühen sich um die Situation in Südosetien. Wir trafen auch den Chef von UNOMIG, der UNO-Truppe, die sich für Abchasien einsetzt.
In beiden Fällen wurde uns mehr oder weniger zu Verstehen gegeben, dass man sich in einer Blockade-Situation befindet und kaum wirkliche Fortschritte zu einer Lösung erzielt werden können. Und durch die Blume wurde uns vermittelt, dass die Regierung in Tiflis keinerlei Angebote macht – weder an Russland noch an die Bevölkerung. Die Menschen werden nicht motiviert, nach Georgien zurückzukehren.

Unabhängigkeitstag

Am Rande unserer Gespräche konnten wir heute die intensiven Vorbereitungen für die Militärparade mitverfolgen, die am 26. Mai stattfinden soll. Der 26.5.1918 ist der der Tag der Unabhängigkeit Georgiens gewesen – eine Unabhängigkeit, die allerdings nur wenige Jahre gedauert hat. Auch Georgien war in die spätere Sowjetunion einverleibt worden.
Die Militärparade hat zweifellos den Zweck, Stärke zu demonstrieren – nicht so sehr gegenüber Russland, sondern vielmehr gegenüber der eigenen Bevölkerung. Und zweifellos soll sie die Rolle des zweiten starken Mannes in der Regierung, des Verteidigungsministers, entsprechend untermauern.

Tourismusland Georgien

Georgien ist unterm Strich ein spannendes Land. Und es ist ein schönes Land, soweit ich das aufgrund meiner Eindrücke von Tiflis beurteilen kann. Tiflis ist eine arme Stadt. Es gibt unzählige heruntergekommene Viertel und Häuser. Derzeit wird aber gerade das historische Stadtzentrum renoviert. Und die vielen Kirchen in der Umgebung, auf den Hügeln und am Fluss, bieten einen reizvollen Anblick. Wenn die Renovierung erfolgreich abgeschlossen werden kann, wird zweifellos ein schöner Gesamteindruck entstehen. Und so könnte Georgien insgesamt auch zu einem Tourismusland werden. Der Tourismus, aber auch die Landwirtschaft könnte in diesem Sinn eine gute Zukunft in diesem Land haben.
Bei aller Liberalisierungspolitik wird in Georgien aber zu wenig getan, um eine positive Wirtschaftspolitik zu entwickeln. Eine solche positive Wirtschaftspolitik müsste sich eben genau auf die Landwirtschaft und den Tourismus stützen und entsprechende Potentiale entwickeln.
Am heutigen Abend geht es, nach einem Pressegespräch, an dem unzählige JournalistInnen teilgenommen hatten, für uns weiter nach Baku, der Hauptstadt von Aserbaidschan.

Tiflis, 23.5.2006