Kleiner Einblick in die russische Außenpolitik

Bei der gemeinsamen Gestaltung der Zukunft muss sich jede Seite auch über die eigene Vergangenheit, über die Fehler, Untaten und Verbrechen der Vergangenheit klar werden, sich dazu bekennen und letztendlich auch dafür entschuldigen.
Die vergangene Sitzungswoche in Straßburg war durch zahlreiche Besuche gekennzeichnet. Am Montag war Boliviens Präsident Evo Morales ins Plenum und auch zur Diskussion im außenpolitischen Ausschuss gekommen.

Konkrete Maßnahmen im Nahen Osten

Am Dienstag folgte der Präsident der palästinensischen Behörde Mahmud Abbas, auch Abu Masen genannt. Er legte uns seine Sicht über die Entwicklungen im Nahen Osten dar und warb für weitere Friedensverhandlungen mit Israel. Abbas stellte außerdem klar, dass er nicht jene Politik vertritt, die von der neu gewählten Mehrheit im Parlament Palästinas vertreten wird. Seine Linie kann ich voll unterstützen, und das gilt auch für die Mehrheit im Europäischen Parlament.
Die Schwierigkeit liegt jetzt allerdings darin, welche konkreten Schritte und Maßnahmen gesetzt werden können. Wie können wir beide Seiten – die palästinensische, aber auch die israelische Regierung – überzeugen, an den Verhandlungstisch zurück zu kehren? In unserer Fraktion haben wir ein Papier ausgearbeitet und diskutiert, das genau jene Richtung aufzeigt, die unmittelbar eingeschlagen werden kann und muss. Und bei der nächsten Plenarsitzung wollen wir eine Resolution verfassen, mit der wir die Europäische Kommission und den Europäischen Rat auffordern, sich uns anzuschließen.

Griechenland und Russland

Auch der griechische Staatspräsident Karolos Papoulias hat in dieser Woche dem Europäischen Parlament einen Routinebesuch abgestattet. Er hat eine gute Rede gehalten, war aber angesichts der vorherigen Reden von Evo Morales und Mahmud Abbas nicht so spektakulär. Außerdem führten wir mit dem russischen Außenminister Sergej Lawrow eine längere Diskussion im außenpolitischen Ausschuss. Lawrow hielt, wie es heute noch in Russland üblich ist, eine lange und eher generell gehaltene Einleitung, und erst seine Beantwortung der Fragen hat uns einen kleinen Einblick in die russische Denkweise gewährt.
Lawrow beschwerte sich, dass wir im Europäischen Parlament die Lage oft nicht objektiv sehen und die geopolitische Realität eines Vielvölkerstaates zuwenig beachten. Er meinte auch, wir gingen nicht mit dem gleichen Grademesser vor, wenn wir beispielsweise die Benachteiligung der russischen Minderheiten in Estland und Lettland akzeptieren. Es sei unsinnig, über eine sowjetische Okkupation des Baltikums zu sprechen. Russland reiche die Hand der Freundschaft und man müsse in einen konstruktiven Dialog eintreten, um die Zukunft zu gestalten.

Die Vergangenheit aufarbeiten

Nun, das mag alles sein. Aber so sehr ich auch dazu stehe, dass es primär um die Zukunft und nicht um die Vergangenheit, ums Aufrechnen oder Verurteilen geht, so sehr glaube ich doch, dass sich bei der gemeinsamen Gestaltung der Zukunft jede Seite auch über die eigene Vergangenheit, über die Fehler, Untaten und, wenn man so will, Verbrechen der Vergangenheit klar werden muss, sich dazu bekennt und sich letztendlich auch dafür entschuldigt. Ich glaube nicht, dass man so ohne weiteres eine neue Basis der Kooperation und des Dialoges schaffen kann, ohne sich mit dieser Vergangenheit auseinander gesetzt zu haben.
Ich gebe zu, dass viele nach wie vor vom Hass gegenüber der Sowjetunion, also Russland, zerfressen sind und in Russland den Erzfeind sehen. Aber ich verstehe auch die große emotionale Enttäuschung darüber, dass Russland sich nicht wie andere Staaten – wenn ich etwa an Deutschland denke – sehr tiefgehend mit der Vergangenheit auseinander setzt. Es geht dabei gar nicht nur um das Verhältnis nach außen hin, sondern vielmehr um das Verhältnis Russlands zu den eigenen Bevölkerungsteilen. Aus diesem Grund ist auch die Kritik an der Tschetschenienpolitik Russlands so stark. Man sieht in ihr eine Konsequenz bzw. Fortsetzung der stalinistischen Unterdrückungs- und zum Teil Vernichtungspolitik.

Tschetschenienpolitik

Erst vor wenigen Tagen hat mich bei einer Veranstaltung in Wien ein tschetschenischer -angeblich – Abgeordneter angesprochen, was wir unternehmen, um Russland von dieser Tschetschenienpolitik abzuhalten. Ich gab ihm zu verstehen, dass das nicht so leicht ist. Erstens können wir nicht intervenieren – weder militärisch noch politisch. Zweitens sind wir von der Energieversorgung abhängig. Dabei wurde zynisch aufgelacht.
Ich habe aber darauf hingewiesen, dass wir unserer Bevölkerung nicht zumuten können, aus Protest gegen die Tschetschenienpolitik Russlands die wirtschaftlichen Beziehungen mit diesem Land zu kappen und damit die Gasversorgung gefährden. Das wäre irreal und entspricht nicht der Welt, in der wir leben. Ich habe aber sehr wohl zum Ausdruck gebracht, dass wir generell weniger abhängig vom russischen Gas werden wollen. Allerdings ist das angesichts des Ausmaßes der Gasversorgung in Österreich wirklich kein leichtes Unterfangen.

Energiecharta

Apropos Gas, natürlich stellte sich bei unserer Diskussion mit Außenminister Lawrow auch die Frage, wie es um die Energiecharta steht. Es geht dabei um einen Grundsatzvertrag bzw. eine Charta zwischen der Europäischen Union und Russland, die gerade für die Kooperation auf energiepolitischem Gebiet eine große Bedeutung hätte. Lawrow meinte, diese würde aber sicher nicht in der bestehenden Form ratifiziert werden, da es noch einige Grundprobleme gäbe. Russland fühlt sich in Hinblick auf den Handel mit Dienstleistungen im nuklearen Bereich diskriminiert. Auch bei Investitionen in den einzelnen Regionen besteht aus russischer Sicht ein Ungleichgewicht.
Es ist nicht ganz klar, was Lawrow konkret gemeint hat. Aber es ist sehr wohl klar, dass Russland keinen Willen hat und keine Bereitschaft zeigt, die Energiecharta zu unterzeichnen. Meine Frage, ob Lawrow eine Alternative zur Kooperation vorschlägt, konnte ich nicht mehr stellen, da bereits die Abstimmungen begonnen hatten. Dennoch wird dieser Punkt ein Thema meiner weiteren Bemühungen sein.

Iran

Wir sprachen Lawrow nicht zuletzt auf die Frage des Iran und dessen Nuklearpolitik an. Er meinte, er sei keineswegs mit den Äußerungen Ahmadinedschads, etwa hinsichtlich Israel, einverstanden. Und er drückte seine Hoffnung aus, gemeinsam mit der Europäischen Union ein neues Paket zu schnüren, das den Iran zum Einlenken bewegen könnte. Für Lawrow gibt es drei Alternativen: es nicht zu tun – das kommt für ihn nicht in Frage; militärisch einzugreifen – das kommt für ihn ebenfalls nicht in Frage. Und daher bleibt für ihn nur die Möglichkeit von Verhandlungen.
Aus meiner Sicht wird man allerdings, so lange sich Europa, Russland, Amerika und der Iran nicht gemeinsam an einen Tisch setzen, nicht viel herausholen können. Aber versuchen sollte man es zweifellos. Trotzdem verstehe ich noch immer nicht, warum die Europäische Union nicht verstärkten Druck auf Amerika ausübt, in Gesamtgespräche mit dem Iran einzutreten. Natürlich hängt es davon ab, wie weit Achmadineetschad in seiner geradezu grotesken Politik geht, im Inneren gegenüber der eigenen Bevölkerung, aber auch hinsichtlich der gesamten Region.

Verhältnis zur Hamas

Hinsichtlich der Hamas meinte Lawrow, dass sich diese an den Waffenstillstand hält. Russland habe zudem der Hamas bzw. der Regierung finanzielle Unterstützung zugesagt, vorausgesetzt, dass das Geld korrekt verwendet wird. Man muss hinzufügen, dass die Hamas auf der Terrorliste Amerikas und Europas steht, allerdings nicht auf der Terrorliste der UNO, Japans, Norwegens und auch nicht Russlands. Daher ist ein entsprechend größerer Bewegungsspielraum gegeben.
Im Übrigen bin ich persönlich fest davon überzeugt, dass diese Terrorismuslisten unsinnig sind. Niemand zwingt einen, mit der Hamas in Beziehung zu treten – ob sie nun auf der Terrorismusliste steht oder nicht. Ich halte diese von Amerika eingeführte Praxis, Listen zu erstellen, bei denen man dann Schwierigkeiten hat, bestimmte Personen wieder von der Liste zu streichen, für absoluten Unsinn.

Das Grundproblem

Das Grundproblem liegt in einem anderen Punkt. Abu Masen hat wenige Möglichkeiten, sich durchzusetzen. Schon als Arafat noch Präsident war wurde festgelegt, dass dem Präsidenten möglichst wenig Kompetenzen verbleiben und alles auf den Ministerpräsidenten abgeschoben wird.
Heute stehen wir vor einer Situation, in der der Ministerpräsident große Macht besitzt und der Präsident nur äußerst eingeschränkt agieren kann – und das, obwohl wir den Präsidenten unterstützen und nicht den Ministerpräsidenten. Ein ähnliches Bild zeigt sich in der Ukraine. Auch hier ist dem Präsidenten Macht entzogen worden und in der Folge hatte Ministerpräsident Justschenko Probleme, seine Ziele durchzusetzen. Aber das nur so nebenbei.

Neue Rollenfindung

Insgesamt war die Diskussion mit dem russischen Außenminister positiv. Er erschien mir sehr ernsthaft und sympathisch. Er zeichnete ein Grundverständnis Russlands, das sich als ein großes Land mit Schwierigkeiten, sich in dieser neuen Welt zurecht zu finden, sieht, aber in vielen Bereichen Kooperation mit den Vereinigten Staaten von Amerika und Europa eingegangen ist, aber im eigenen Nahbereich entsprechend autark agieren möchte. Lawrow meinte, dass der Begriff „the near abroad“, also die Nachbarn außerhalb Russlands, ein Begriff sei, den die Bolschewisten eingeführt haben und der nicht mehr gebraucht wird, zumindest nicht in Russland. Ob allerdings die Politik gegenüber den Nachbarn, bei der auch die Abhängigkeiten hervorgehoben werden, schon überwunden ist, ist eine andere Frage.
Für mich persönlich war es deshalb interessant, Lawrow zu hören, weil ich in den kommenden Tagen gemeinsam mit meinem Kollegen Jan Marinus Wiersma für die Fraktion nach Georgien und Aserbeidschan fahren werde und erst vor kurzem in Armenien gewesen bin. Diese drei Länder liegen genau in der Zone zwischen Russland und Europa. Geografisch, aber vor allem auch politisch und gesellschaftspolitisch. Insofern kann es bestimmt nicht schaden, ein bisschen Einblick in die Gedankenwelt der russischen Außenpolitik zu haben.

Straßburg, 18.5.2006