An der Piave

„Dem Piave gilt heute besonderes historisches Interesse breiter Kreise, da der Fluss zu einem Symbol nicht nur für das Ende des Ersten Weltkriegs an der Südwestfront, sondern auch für das Abtreten der k.u.k. Monarchie von der Weltbühne wurde.“
Ich habe mir sicherlich nichts Politisches oder Historisches gedacht, als wir an diesem Wochenende mit Freunden zu einem kurzen Aufenthalt nach Follina in Norditalien gereist sind. Erst die verschiedenen Hinweistafeln in Follina selbst und dann entlang des Flusses Piave haben meine Aufmerksamkeit auf die historische Bedeutung dieses Landstrichs gelenkt.

Die letzte Schlacht

In der Tat, es ist jetzt 90 Jahre her, dass die entscheidende Schlacht für das Ende des Ersten Weltkriegs hier an der Piave geführt worden ist. In einem Buch von Peter Schubert: „Piave-1918“ mit dem Untertitel „Österreich-Ungarns letzte Schlacht“ meint Walther Schaumann: „Dem Piave gilt heute besonderes historisches Interesse breiter Kreise, da der Fluss zu einem Symbol nicht nur für das Ende des Ersten Weltkriegs an der Südwestfront, sondern auch für das Abtreten der k.u.k. Monarchie von der Weltbühne wurde.“
Meine kurze Reise nach Norditalien weckte meine Neugier und so begann ich, mich ein bisschen mit den letzen Monaten der österreichisch-ungarischen Monarchie und des Ersten Weltkriegs zu beschäftigen. Die letzten Monate waren innerhalb der Monarchie von einem besonderen Chaos und vielen Illusionen geprägt. Man wollte einfach viele Realitäten nicht zur Kenntnis nehmen. Die Monarchie war geschwächt und musste immer wieder deutsche Hilfe und Unterstützung in Anspruch nehmen. Diese Schwäche bezog sich sowohl auf die militärische Kapazität als auch auf die Versorgungs-, insbesondere die Ernährungslage der Bevölkerung. Gleichzeitig wuchsen die nationalen Spannungen. Das lähmte politische Entscheidungsprozesse und führte zu Widerstand bei Soldaten verschiedener Nationalitäten und oftmals auch zu Dessertion.

Zentrifugale Kräfte der Monarchie

Hinzu kamen Eifersüchteleien, zum Beispiel zwischen den beiden Heeresgruppenkommandanten an der Südwestfront, dem ehemaligen Generalstabschef Conrad von Hötzendorf und Svetozar Freiherr Boroevic von Bojna. Ersterer war schon immer überzeugt, dass man Italien massiv angreifen müsse. Zweiterer war ein aus Kroatien stammender Serbe, der sich vor allem am Isonzo militärisch verdient gemacht hatte und den Beinamen „Löwe vom Isonzo“ bekam. Boroevic war ein besonders eifriger Verfechter der Monarchie, was ihm nach dem Zusammenbruch derselben nicht zum Vorteil gereichte. Sein Vermögen in der Tschechoslowakei wurde eingefroren, in Kroatien wurde er persona non grata und im neuen Österreich war er Ausländer. Damit wurde er heimatlos.
Entscheidend waren aber sicher die zentrifugalen Kräfte innerhalb der Monarchie. So meint Manfred Rauchensteiner in einer neuen „Enzyklopädie – Erster Weltkrieg“: „Ungarn suchte mit Blick auf die Nachkriegszeit ein höheres Maß an Unabhängigkeit zu erlangen, wollte aber letztlich am Dualismus festhalten. Doch weder für die nordslawischen Polen, Tschechen und Slowaken, noch für die südslawischen Serben, Kroaten und Slowenen der Habsburgermonarchie war eine solche Zukunft attraktiv.“ Diesen winkten im Übrigen die 14 Punkte des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson.

Weit von der Realität entfernt

Kaiser Karl wollte angesichts der katastrophalen militärischen Lage einen Frieden, aber war nicht bereit, das 14-Punkteprogramm zu akzeptieren – sicherlich im Wissen, dass dies das Ende der Monarchie bedeuten würde. Aber was er nicht zur Kenntnis nehmen wollte war, dass dieses Ende ohnedies abzusehen war. Zu groß waren die inneren Widersprüche und Spannungen. Ein verschwommen formuliertes Manifest des Kaisers über mehr Autonomie innerhalb der Monarchie konnte da auch nichts mehr helfen. Innerhalb und außerhalb der Donaumonarchie verband man den Frieden mit dem Ende des Habsburgerreiches, auch wenn dies der Kaiser nicht wahr haben wollte und er sowie viele Militärs weiter kämpfen wollten.
Wenn man sich die Protokolle der letzten Sitzungen des Gemeinsamen Ministerrates der Monarchie durchliest, merkt man, wie weit entfernt von den Realitäten die verschiedenen Minister waren. Man stritt darüber, ob Österreich oder Ungarn mehr Opfer zu bringen habe, wenn man den Südslawen – ohne Serbien und Montenegro – innerhalb der Monarchie einen eigenen Staat erlauben sollte. Man diskutierte, ob man den Soldaten neben dem Eid auf die Majestät auch einen auf ihre Nation erlauben sollte, etc. All diese Fragen waren aber irrelevant angesichts der tatsächlichen Entwicklungen. Und während die Verantwortlichen der Habsburgermonarchie fiktive Diskussionen abhielten, starben viele weitere Tausende von Soldaten, unter anderem an der Piave. Am 24.Oktober 1918 starteten die Italiener mit ihren Verbündeten bei Vittorio Veneto die letzte grosse Offensive gegen Österreich-Ungarn. Diese vermasselte dann noch den Waffenstillstand mit Italien, unter anderem weil vor allem der Kaiser nicht am Untergang des Reiches schuld sein wollte. Genauso wie er Friedensinitiativen startete, aber dies dann gegenüber dem deutschen Verbündeten nicht zugeben wollte.

Die Lehren für das heutige Europa

Führt man sich die Geschichte der letzten Jahre und vor allem Monate der Donaumonarchie vor Augen, so kann man durchaus einige Lehren daraus ziehen – auch für das heutige Europa. Erstens: Lavieren, Ignorieren und Nicht zur Kenntnis Nehmen von Tatsachen zahlt sich nicht aus. Ohne klare Ziele und Organisation sowie entsprechende Ressourcen kann man keine zivile oder militärische Strategie umsetzen.
Und zweitens: Eine Vielvölkergemeinschaft – und das ist ja auch die heutige EU – muss sehr sensibel mit den verschiedenen nationalen Interessen und Empfindlichkeiten umgehen. Zentrale und dezentrale Entscheidungsstrukturen müssen wohl ausgewogen sein. Letztendlich gilt es, der Bevölkerung bzw. den Bevölkerungen immer wieder den Mehrwert der Vielvölkergemeinschaft zu beweisen. Es gilt also, die Legitimität jeder übernationalen Vielvölkergemeinschaft immer wieder unter Beweis zu stellen. Die jetzige Wirtschaftskrise ist für die EU eine solche Gelegenheit.

System der „checks und balances“

Die österreichisch-ungarische Monarchie war diesen Aufgaben nicht gewachsen. Vielleicht war auch die Zeit noch nicht reif dafür. Noch ist allerdings nicht belegt, dass die EU bzw. die heutigen PolitikerInnen diesen Aufgaben gewachsen sind. Von einigen bin ich mir persönlich sicher, dass sie es nicht sind, so beispielsweise Vaclav Klaus, Silvio Berlusconi, die Brüder Kascinski, etc. Einige sind wieder zu lau in ihren europäischen Ambitionen. Dennoch hoffe ich, dass es genügend Kräfte gibt, die bereit sind, aus der Geschichte des Ersten Weltkriegs und der noch viel katastrophaleren Geschichte danach die Konsequenzen zu ziehen. Wichtig ist ein System von „checks und balances“, das den nationalen Interessen entgegenkommt, aber sie nicht zu dominant werden lässt. Und dass ermöglicht wird, dass die globalen Aufgaben der EU und damit die wesentlichste Möglichkeit, ihre Legitimät zu beweisen, auch angemessen erfüllt werden können.
Man muss mit Europa sehr sorgfältig umgehen und sich immer von Neuem darum bemühen. Vor allem, dass es uns nicht so geht wie Stefan Zweig – auch wenn sich die Geschichte nicht wiederholt. In „Die Welt von Gestern“ meinte er bezüglich des Ersten Weltkriegs: “ Nie habe ich unsere alte Erde mehr geliebt als in diesen letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, nie mehr auf Europas Einigung gehofft, nie mehr an seine Zukunft geglaubt als in dieser Zeit, da wir meinten, eine neue Morgenröte zu erblicken. Aber es war in Wahrheit schon der Feuerschein des nahenden Weltbrands“.

Follina, 2.11.2008