An der Schwelle zur Dritten Welt

Mexiko ist der größte spanisch sprechende Staat der Welt und steht in der Rangliste der Wirtschaftskraft auf Nummer 13.
Eine Reise der Fraktionsspitze hat mich diesmal nach Mexiko geführt und wird von hier aus weiter nach Washington gehen.

Wirtschaftswunder

Mexiko ist bekanntlich kein kleines, unbedeutendes Land. Es hat etwa 100 Millionen Einwohner und ist damit der größte spanisch sprechende Staat der Welt. In der Rangliste der Wirtschaftskraft steht es auf Nummer 13. In den vergangenen Jahren ist es gelungen, die Inflation stark herunterzudrücken und das Wachstum entsprechend hochzuschrauben. Alleine in der ersten Hälfte des Jahres 2006 wurden über 500.000 neue Arbeitsplätze geschaffen. Im Gespräch mit dem Wirtschafts- und Handelsminister meinte dieser, er gehe davon aus, dass es bis Ende des Jahres über eine Million weitere neue Arbeitsplätze geben wird. Die Exporte sind gestiegen, und es gibt eine nicht unbeträchtliche Anzahl von direkten Investitionen.
Insgesamt kann man also ganz zweifellos von einer äußerst positiven Entwicklung sprechen. Zugegeben, nicht alle Arbeitsplätze sind von höchster Qualität – das ist heute nirgendwo der Fall. Aber immerhin: Die Wirtschaft hat sich relativ gut entwickelt, und man merkt dem Land auch seinen Charakter als Schwellenland zwischen Erster und Dritter Welt an. Mexiko City ist etwa zu weiten Teilen eine Stadt der Ersten Welt, allerdings gibt es auch hier extreme Armut.

Umstrittenes Wahlergebnis

Unsere Gespräche, die wir mit den europäischen Botschaftern und dem Kommissionsvertreter sowie mit vielen politischen RepräsentantInnen und ParteienvertreterInnen geführt haben, drehten sich vornehmlich um die aktuelle Situation in Mexiko. Am 2. Juli haben Wahlen stattgefunden, und das Ergebnis war extrem knapp. Laut offiziellen Behördenberichten hat der, wenn man so will, konservativ-liberale Kandidat Felipe Caldéron um ein knappes halbes Prozent gegenüber dem linken Kandidaten Andres Manuel López Obrador gewonnen.
Nun, Obrador hat die Wahl angefochten und ein Recount, also ein nochmaliges Auszählen aller Stimmen verlangt. Dies hat sein Gegenüber abgelehnt und die offiziellen unabhängigen Behörden haben sich bisher noch nicht im Detail geäußert. Das hat zu einer äußerst unsicheren Situation geführt, wobei die drittstärkste Partei – die PRI, die alte traditionelle Partei der so genannten institutionellen Revolution – sehr gespalten ist, ob sie eher Obrador oder eher Caldéron unterstützen soll. Einige Gouverneure stehen durchaus auf der Seite von Caldéron, die Abgeordneten hingegen wollen lieber mit Obrador zusammenarbeiten und unterstützen ihn auch in seiner Kritik am Wahlergebnis.

Schwer zu beurteilen

Für uns ist es schwer, eine Beurteilung vorzunehmen. Die PRD von López Obrador steht uns einerseits näher als die PRI und wir verstehen die Argumente. Andererseits müssen wir aber darauf beharren, dass die Institutionen, die das Land in den letzten Jahren geschaffen hat und die wesentlich zur Stabilisierung beigetragen haben, nicht in Frage gestellt werden.
Inwieweit es Obrador geschadet hat, dass er leichter in das Licht eines Hugo Chavez gerückt werden konnte, weiß man nicht. Allgemein wird kritisiert, dass sich Präsident Vicente Fox in der ersten Phase unmissverständlich für Caldéron ausgesprochen hat. Nach mexikanischen Spielregeln ist es verboten, dass sich ein amtierender Präsident zu einem Kandidaten äußert. Caldéron seinerseits hat eine sehr untergriffige Kampagne gegen Obrador geführt. Ob diese Vorgänge weit darüber hinausgehen, was in anderen Demokratien möglich ist, kann ich schwer beurteilen. Es handelt sich jedenfalls um Kritikpunkte, die von der linken Seite vorgebracht werden.

Fairer Wirtschaftsaustausch

Unabhängig von den Diskussionen zur politischen Lage, die wir in verschiedenen Gesprächen geführt haben, gab es auch zwei offizielle Termine mit Regierungsvertretern. Wir trafen zunächst den Wirtschaftsminister, mit dem wir Fragen des Wirtschaftsaustausches und des Welthandels diskutierten.
Er meinte, solange die USA und Europa bei der Öffnung der landwirtschaftlichen Märkte bzw. der Produkte auf dem Landwirtschaftssektor nicht nachgeben würden, so lange würde es zu keiner Regelung kommen. Man könne nicht verlangen, dass die Entwicklungsländer ihre Märkte für Industrieprodukte öffnen, während die entwickelten Länder bei der Landwirtschaft dermaßen restriktiv bleiben bzw. nur geringe Angebote machen.

Politische Polaisierung in Lateinamerika

Mit einer Staatssekretärin des Außenministeriums diskutierten wir verschiedene politische Punkte. Ich fragte sie ganz offen, wie wir ihrer Meinung nach zu Kuba stehen sollten und welche Politik die Richtige sei und sprach sie auch auf die Rolle Mexikos in Lateinamerika an. Zu Kuba meinte sie, es habe bisher noch keinen Weg gegeben, der der Richtige sei und helfen würde, positive demokratische Entwicklungen in Kuba herbeizuführen. Die amerikanische Haltung sieht sie allerdings sehr kritisch und steht ihr negativ gegenüber. Aus ihrer Sicht gilt es, flexibel zu handeln und die Gesprächskanäle offen zu halten.
Zur Position Mexikos in Lateinamerika meinte sie, dass Mexiko ohne jeden Zweifel gute Beziehungen zu seinen unmittelbaren Nachbarn, aber auch zu den anderen lateinamerikanischen Staaten hegt. Sie sieht allerdings keinen einheitlichen Trend nach links, sondern eher eine Polarisierung: auf der einen Seite Chavez und Morales, auf der anderen, eher rechts stehende Politiker und dazwischen Präsident Luis Inacio Lula in Brasilien und Präsidentin Michelle Bachelet in Chile. In diesem Sinn gäbe es keine einheitliche rechte oder linke Entwicklung Lateinamerikas, sondern sehr differenzierte Entwicklungen und es sei schwer, eine gemeinsame Politik der lateinamerikanischen Länder herbeizuführen.

Falsche US-Sichtweise

Gerade heute habe ich einen Artikel von Francis Fukuyama im Wall Street Journal gelesen. Fukuyama ist ein hervorragender, in der Mitte des amerikanischen politischen Spektrums angesiedelter Wissenschaftler, der durch sein Buch „Ende der Geschichte“ bekannt geworden ist. In besagtem Artikel meinte Fukuyama, dass die Entwicklung Lateinamerikas in Amerika nicht richtig gesehen würde. In den USA stünden oft die Instabilität und die Veränderung nach links im Vordergrund. Übersehen würde dabei, dass es heute in vielen Ländern stabile demokratische Institutionen gibt und ein Wechsel von Regierungen stattgefunden hat. Zudem spiele das Militär nicht mehr eine derart führende Rolle.
Mexiko sei zweifellos ein Beispiel dafür, wie aus einem de facto Ein-Parteien-Regime eine Demokratie geworden ist. Und wenn es auch kürzlich zu einer sehr knappen Wahl mit unterschiedlicher Bewertung und einem dadurch schwach legitimierten Präsidenten gekommen sei, dann ist das Francis Fukuyama einen Vergleich mit den Wahlen in den USA wert. Vor allem die erste Bush Wahl ist für ihn weit dramatischer und problematischer gewesen.

Partnerschaft angestrebt

Insgesamt diente unsere Reise der Stärkung der Beziehungen der sozialdemokratischen Fraktion mit den beiden uns nahe stehenden Parteien PRD und PRI. Es wird sich zeigen, inwieweit das in der Praxis möglich ist und ob es nicht doch nur bei oberflächlichen Gesprächen bleibt.
Es wäre jedenfalls gut, könnten wir hier Partner finden, mit denen wir einen intensiven Meinungsaustausch pflegen könnten. Wir möchten diesen Parteien, aber auch Mexiko insgesamt das Gefühl geben, dass sie nicht allein auf die USA angewiesen sind, sondern auch einen Partner in der Europäischen Union haben.

Mexiko City, 11.7.2006