Auf dem Roten Platz

Beim Wandern über den Roten Platz und in seiner Umgebung sieht man deutlich das Herz, die Stärke und die Kraft, die Russland auch heute besitzt, wenngleich schon einige Schritte der Normalisierung gemacht worden sind.
Heute Morgen haben wir vor unseren ersten offiziellen Terminen den Roten Platz besucht.

Überwältigende Inszenierung

Es ist prächtiges Herbstwetter und wir waren vom Eindruck, den einem der Rote Platz, der Kreml und das Leninmausoleum bieten sowie von der Inszenierung dieses Platzes insgesamt überwältigt. Wir haben bei dieser Gelegenheit auch noch schnell das Leninmausoleum besucht. Heutzutage gibt es nur mehr kurze Warteschlangen – was in Sowjetzeiten noch ganz anders war!
Für mich war es der erste Besuch im Leninmausoleum. Zum einen habe ich mich nie besonders dafür interessiert, zum anderen wollte ich aber auch den Eindruck vermeiden, Lenin eine Referenz zu erweisen. Ich anerkenne ihn als große Persönlichkeit der Geschichte, aber ich glaube nicht, dass Lenin der Unschuldige und Stalin der Schuldige ist an den Verfehlungen, Verfestigungen und katastrophalen Entwicklung der Sowjetunion. Unabhängig davon finde ich es eigentlich grotesk, einen Menschen einzubalsamieren und ihn permanent zur Schau zu stellen.

Im Lenin-Mausoleum

Dieser groteske Eindruck hat sich beim Besuch des Mausoleums und beim Vorbeigehen an der Leninmumie bestätigt. Irgendwie war er für mich in diesem Moment das Sinnbild, das Symbol einer bürokratisierten, vertrockneten und unbeweglichen Sowjetunion, die ja aus der Reversion hervorgegangen ist: unbeweglich, aber deswegen nicht weniger erfolgreich in der Abwehr der Aggression von Nazideutschland. Trotz vieler Fehler, die bekanntlich gerade Stalin in diesem Zusammenhang militärisch begangen hat und trotz seiner ungeheuren Brutalität gegenüber Teilen der eigenen Bevölkerung ist es Russland gelungen, unter größten Opfern die Attacke Nazideutschland abzuwehren – und das wiegt heute natürlich noch immer schwer.
Der vaterländische Krieg, den Russland geführt und gewonnen hat, ist etwas, auf das Russland stolz ist. Und genau dieser Stolz überträgt sich leider auch heute noch fast ungebrochen auf Stalin. So sind viele seiner Mitkämpfer, die ihm zum Teil hörig sein mussten, von Marschall Sinowjew angefangen bis zu Kamenew, und natürlich auch Stalin selbst an der Kremlmauer beigesetzt und haben auch eine Büste bekommen. So auch die letzten Sowjetführer Breschnew, Tschernenko und Andropow, ebenso wie der Ideologe schlechthin, Suslow. Wenn man also nach dem Besuch des Leninmausoleums den Ausgang anpeilt und an den Büsten dieser Führer, die ihre Grabmäler zieren, vorbeigeht, dann wird einem eine lange, von mir zum Teil selbst erlebte, Geschichte der Sowjetunion vor Augen geführt, mit all ihren Grotesken, mit all ihrem Rätselraten über die verschiedenen Machtkämpfe, die es unter und nach Stalin gegeben hat.

Der unbekannte Soldat

Es ist eine eigenartige Situation, die man hier erlebt. Insbesondere dann, wenn man berücksichtigt, was heute aus diesem großen Experiment der Sowjetunion geworden ist und wie wir heute noch mit den Konsequenzen des Zerfalls dieses Reiches, aber auch mit den Konsequenzen der neuen Konfigurationen, die sich in der Sowjetunion ergeben haben, zu kämpfen haben. Südossetien und Abchasien kamen ja in der sowjetischen Zeit zu Georgien – und das nicht freiwillig. So gesehen ist diese aktuelle Auseinandersetzung ja eigentlich die Konsequenz einer mehr oder weniger willkürlichen Zuteilung in Sowjetzeiten, insbesondere unter Stalin in der Neuordnung der Sowjetunion. Und vor diesem Hintergrund haben wir es heute nicht nur mit den Konsequenzen des Zerfalls, sondern auch mit den Konsequenzen des Entstehens und der stalinistischen Machenschaften innerhalb der Sowjetunion zu tun. Und heute verteidigt Georgien die Konsequenzen der stalinistischen Aktivitäten!
An der Kremlmauer unmittelbar neben dem Roten Platz befindet sich auch das Denkmal des unbekannten Soldaten. Die Wachablöse, die dort regelmäßig stattfindet, zeigt nach wie vor die Militärpräsenz und die Bedeutung der Armee für Russland. Auch das ist im Zusammenhang mit der Krise in Südossetien zu sehen. Eine derartige Attacke gegen russische Soldaten wird nicht nur von den russischen Politikern, sondern auch von der gesamtrussischen Gesellschaft als eine äußerst negative und zu verurteilende Handlung gesehen.

Reserve-Stalins

Das Wandern über den Roten Platz und in seiner Umgebung demonstriert einem deutlich das Herz, die Stärke und die Kraft, die Russland auch heute besitzt, wenngleich schon einige Schritte der Normalisierung gemacht worden sind. Ein solcher Personenkult, wie es ihn in den sowjetischen Zeiten gegeben hat, ist heute undenkbar.
Die Reserve-Lenins und -Stalins, die sich heute anbieten, um Fotos mit Soldaten, Familien oder Paaren zu machen, sind einerseits traurig. Und zwar insofern, als es Menschen gibt, die sich mit Stalin fotografieren lassen wollen. Andererseits sind es fast hilflose Figuren, die hier herumstehen und die groteske Situation widerspiegeln, dass sich solche Figuren heute anbiedern müssen, um mit auf ein Foto zu kommen. Für mich ist es ernüchternd, dass Lenin, aber vor allem Stalin – übrigens ist er ein Georgier – heute als die wichtigsten Persönlichkeiten Russlands gesehen werden. Das hängt sehr stark mit dem Krieg und mit der Verteidigung des Vaterlands gegen Nazideutschland zusammen. Allerdings wird die andere Seite des Stalinismus, nämlich sein brutales Vorgehen gegen die eigenen BürgerInnen, heute auf die Seite geschoben, nicht beachtet, verdrängt.

Moskau, 2.10.2008