Keine unüberlegten Schritte setzen

Der Beitritt zur Nato bzw. ein Anvisieren der Nato mit dem Vorbereitungsvertrag für die Mitgliedschaft, wie das beim letzten Nato-Gipfel angedacht wurde, könnte katastrophale Folgen haben und ist daher abzulehnen.
Nach unserem Rundgang auf und um den Roten Platz fuhren wir in die Europäische Kommission in Moskau, wo wir ausführliche Gespräche mit den äußerst versierten MitarbeiterInnen führten. Wir erhielten zu unseren einzelnen Detailfragen sehr gute Antworten, Vorschläge und Ideen.

Tabubruch

In der Kommissionsvertretung hatten wir auch ein interessantes Gespräch mit einem Experten für russische Außen- und Sicherheitspolitik, den ich schon von früher kenne: Fjodor Alexandrovitsch Lukjanov, der auch die Zeitschrift „Russia in Global Affairs“ herausgibt. Er hat ziemlich klar festgestellt, dass er die Behauptung Medwedjews, die Welt habe sich für Russland nach dem 7. August, also nach dem Angriff Südossetiens, genauso geändert wie für die USA nach dem 9. September, also nach der Attacke auf die Twintowers in New York, nicht teilt. Lukjanov rief in Erinnerung, dass sich schon vorher entsprechende Tendenzen abgezeichnet hätten.
Trotzdem gestand er ein, dass etwas passiert ist, das es in den Jahren seit des Zerfalls der Sowjetunion nicht gegeben hat: Durch die Anerkennung Südossetiens und Abchasiens wurde ein Tabu gebrochen. Die Grenzen, die nach dem Zerfall hergestellt worden sind, wurden plötzlich nicht mehr anerkannt, in Frage gestellt und damit quasi verrückt. Die Entwicklung hat sich also nicht von heute auf morgen vollzogen. Für Lukjanov war das, was am 7. August passiert ist – wie übrigens für viele andere Gesprächspartner vor und nach ihm – ein notwendiger Schritt, der sich automatisch ergeben hat.

Konsequenzen für die Ukraine

Wir haben in der Folge auch ausführlich über die Konsequenzen für die Ukraine diskutiert. Eine mögliche Natomitgliedschaft der Ukraine hätte aus Lukjanovs Sicht fatale Konsequenzen. Russland würde die Grenzen in der Krim nicht mehr anerkennen und es könnte zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommen. Russische Militärs in Form von Seestreitkräften sind ja bereits vor Ort. Und das könnte die Konflikte wirklich wesentlich verschärfen.
Die Krim ist von Krustschow letztendlich der Ukraine zugeteilt worden, was heute von vielen in Russland als nicht rechtmäßig angesehen wird, sodass die Aufteilung, wie sie eben nach dem Zerfall der Sowjetunion erfolgt ist, legal in Frage gestellt wird. Es gibt eine indirekte Anerkennung dieser Grenze, und zwar durch den Vertrag zwischen Russland und der Ukraine. Demnach darf die Flotte der Ukraine noch bis 2017 auf der Krim bleiben. Wenn dieser Vertrag allerdings von der Ukraine in Frage gestellt wird, dann könnte indirekt auch Russland generell in Frage stellen, dass die Krim zur Ukraine gehört. Diesen Aspekt gilt es zu berücksichtigen.

Nato-Beitritt ist abzulehnen

Im Lauf unserer in Moskau geführten Gespräche hat sich meine Überzeugung immer mehr verfestigt – und das gilt auch für Martin Schultz einige andere – dass der Beitritt zur Nato bzw. ein Anvisieren der Nato mit dem Vorbereitungsvertrag für die Mitgliedschaft, wie das beim letzten Nato-Gipfel angedacht wurde, katastrophale Folgen haben könnte und daher abzulehnen ist. Ich habe bereits im Sommer angesichts der Auseinandersetzungen über die Südkaukasusfrage klar festgestellt, dass ein solches Heranrücken der Nato an die russische Grenze extrem problematisch ist.
Immer wieder erinnere ich mich auch an die Aussage, die der portugiesische Außenminister gemacht hat, als wir ihm in Vorbereitung der EU-Präsidentschaft einen Besuch abgestattet hatten. Auch er zeigte sich sehr besorgt über diesen Wunsch, die Nato an die Grenzen Russlands heranzuführen. Nachträglich hat sich seine Besorgnis als Wahrheit erwiesen. Es bedarf in dieser Frage also allergrößter Vorsicht.

Kritik im direkten Gespräch äußern

Nach dem Gespräch mit Lukjanov, das uns letztendlich sehr betroffen gemacht hat, haben wir uns mit Vertretern der Zivilgesellschaft getroffen. Dabei ging es in erster Linie um die innere Situation in Russland. Dieses Gespräch war ebenfalls sehr offen und konstruktiv, und wir haben nicht herausgehört, dass eine aggressive Politik gegenüber Russland bzw. ein Zurückweisen und Isolieren Russlands hilfreich wäre, sondern im Gegenteil absolut falsch. Das hat uns in unserer Meinung bestätigt, hier mit größter Vorsicht vorzugehen.
Am Abend trafen wir schließlich eine Delegation der Association of European Business, also eines europäischen Wirtschaftsvereins in Russland. Mehrere Unternehmensvertreter, von Michelin bis zum Chef von British Petrol, waren anwesend und schilderten uns ihre Situation. Eine Schwierigkeit stellt zum Beispiel die Frage der Visaerteilung für Personen, die länger in Russland bleiben wollen, um hier wirtschaftlich tätig zu sein, dar. Das neue Visaabkommen hat viele Vorteile gebracht, aber auch manche Probleme und manche strengere Anwendung von Gesetzen – insbesondere was die Frage der Arbeitsgenehmigung betrifft. Insgesamt war auch hier die klare Botschaft: Kritik an Russland ist notwendig, diese sollte aber im direkten Gespräch erfolgen und nicht permanent öffentlich geäußert werden. Zum Teil ist es ja gerade umgekehrt: Viele üben im direkten Gespräch keine Kritik, sondern tun dies über Presseaussendungen etc. Das ist zweifellos der falsche Weg.

Moskau, 2.10.2008