Aufbruch ins Ungewisse

Wo liegt die politische Entscheidungsmacht in Algerien?
Wieder einmal bin ich in Algier. Die ehemalige Einheitspartei FLN hat eine Delegation der europäischen Sozialdemokraten nach Algerien eingeladen. Die FLN war jene Befreiungsbewegung, die Algeriens Unabhängigkeit gegen den erbitterten Widerstand der Franzosen erkämpft hatte. Nach der Befreiung jedoch degenerierte und erstarrte sie zur Einheitspartei, die – zum Teil in Verbindung zu bestimmten Gruppen im Militär – mehr am Selbsterhalt als an den Interessen der Bevölkerung interessiert war.

Annäherung an die Demokratie

Als es Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre zu freien Wahlen kam, zeichnete sich ein Wahlsieg der Islamisten ab und der Wahlprozess zum Parlament wurde vor dem zweiten Wahlgang durch das Militär gewaltsam unterbrochen. Die zwei Führer der Islamisten wurden zwei Tage vor unserer Ankunft frei gelassen, allerdings sind sie von jeder politischen Tätigkeit ausgeschlossen.
Die FLN hat sich nach ihrer Diskreditierung unter der Bevölkerung und entsprechenden Wahlverlusten – selbst unter Berücksichtigung bestimmter Wahlmanipulationen – verstärkt an die Verhältnisse in einer Demokratie angepasst und ging aus den jüngsten Parlamentswahlen als Sieger mit absoluter Mehrheit hervor. Folgerichtig wurde der Generalsekretär (=Vorsitzender) dieser Partei, Ali Benfils, von Präsident Bouteflika zum Ministerpräsident ernannt. Vor wenigen Wochen kam es jedoch zum Zerwürfnis, nachdem Benfils angedeutet hat, dass er selbst zum Staatspräsidenten kandidieren möchte und damit in direkte Konkurrenz zum amtierenden Präsidenten, der seine Wiederwahl anstrebt, kam. Dieser ernannte auch den früheren Ministerpräsidenten und Justizminister unter Ben Fils zum neuen Regierungschef.
So trafen wir nicht mehr Ali Benfils als Regierungschef, sondern „nur mehr“ als Vorsitzenden der größten Partei – die allerdings über eine absolute Mehrheit im Parlament verfügt. Die Entlassung des Mehrheitsführers aus dem Amt des Regierungschefs und die Ernennung eines Nachfolgers einer kleinen Partei sagt allerdings einiges über die Macht des Parlaments einerseits und des Präsidenten sowie einiger Generäle andererseits aus.

Wo liegt die politische Entscheidungsmacht?

Damit komme ich auch gleich zu einem neuen Kernproblem der nach wie vor undurchsichtigen politischen Situation in Algerien. Wo liegt die politische Entscheidungsmacht? Denn auch der entlassene Premierminister war in seiner Kritik am Präsidenten bzw. der Armee sehr zurückhaltend.
Seine Partei, die FLN, dürfte sich sehr verändert und reformiert haben. Wir trafen viele sympathische und offene Funktionäre, insbesondere auch junge Frauen, die der Partei ein neues Gesicht, aber auch neue Inhalte geben dürften. Wesentliche Säulen des politischen Gebäudes wurden aber trotzdem nicht oder zumindest nicht laut in Frage gestellt!

Kritik ist keine politische Strategie

Aus diesem Grund haben unsere zweiten Gesprächspartner, die Vertreter der FFS, also der Sozialisten, die FLN nach wie vor zu den traditionellen Machthabern gezählt. Die FFS – formell unsere Bruder- bzw. Schwesterpartei – war nicht besonders glücklich über unseren Besuch bei der FLN.
Die FFS, geführt von Hocine Ait Ahmet, der sich ständig im Ausland befindet, steht dermaßen in Opposition zu den übrigen Parteien, dass sie heute nicht mehr im Parlament vertreten ist und nur mehr auf lokaler und regionaler Ebene, etwa in der Kabylei, einen neuerstarkten Einfluß besitzt. Ich kann ihrer Kritik an den herrschenden Verhältnissen, vor allem an den militärisch-wirtschaftlichen Konglomeraten, viel abgewinnen, aber daraus entsteht noch keine politische Strategie. Dazu wird man wahrscheinlich auch Koalitionen bilden müssen, beispielsweise mit der FLN, wo immer sich zumindest gemeinsame Teilziele formulieren lassen.

Gedämpfter Optimismus

Wieder einmal verlasse ich Algerien mit eher gemischten als optimistischen Gefühlen. Der Terrorismus im Land ist zurückgedrängt, aber nach wie vor gibt es Anschläge mit unzähligen Toten. Die jüngsten Entführungen, unter anderem von einigen Österreichern, senden auch keine positiven Signale aus Algerien. Reichtum für einige Wenige, Armut und Arbeitslosigkeit für Viele, kennzeichnen auch dieses Land, das als solches nicht arm ist, denkt man etwa an die Eröl- und Erdgasvorkommen und an das landwirtschaftliche Potenzial. Aber der Reichtum versickert in wenigen Händen und die Entschlossenheit einiger Reformer wird im Keim erstickt. Einige Militärs und die hohe Bürokratie verstehen sich gut in der Wahrung ihrer Interessen.
Gerade aus diesen Gründen sollten wir die Reformer der FLN unterstützen, um ihnen die Chance zu geben, ihre Absichten in die Tat umzusetzen. Noch sind sie nicht entschlossen und mutig genug. Aber vielleicht können wir sie bewegen, wichtige Schritte zu setzen – hoffentlich mit Unterstützung unserer Freunde bei den Sozialisten.

P.S.:
Auf dem Rückflug nach Brüssel mussten wir mehr als sechs Stunden am Flughafen von Algier warten. Was genau – technische Problem? – die Ursache dafür war, wurde uns nicht mitgeteilt. Letztendlich wurde noch eine ältere Maschine aufgetrieben, die uns sicher, wenngleich stark verspätet nach Brüssel brachte. Die große Verspätung, vor allem aber die Unsicherheit und Undurchsichtigkeit hinsichtlich der Ursachen und des Ausmaßes der Verzögerung – uns wurde immer wieder eine „kleine“ Verspätung angekündigt – erscheint mir symptomatisch für dieses Land zu sein. Schade, denn ich würde der Bevölkerung Algeriens endlich Wohlstand, Fortschritt und inneren Frieden wünschen!
Ich hätte auch die Zeit, die wir wartend auf dem Flughafen verbrachten, genützt, um mir „Algier – die Weiße“ einmal näher anzusehen. Zwar gibt es vom alten, unter türkischer Herrschaft entstandenen Algier kaum noch etwas zu sehen, aber auch während der Kolonialherrschaft der Franzosen entstanden schöne Stadtviertel und Gebäude. Wenngleich die Pläne so großer Architekten wie Le Corbusier kaum verwirklicht wurden. Allerdings, das herrliche Hotel-Restaurant, in dem wir vorgestern zu Abend gegessen haben, ist angeblich von Le Corbusier. Ich habe es noch nicht nachprüfen können, aber vom Design und seiner Qualität her könnte es durchaus zutreffen.
Algier, 7.7.2003