Time for a change

Wenn die Türkei die notwendigen Gesetzesvorhaben mit diesem Reformtempo beschließt und überdies die Reformen auch umsetzt, dann kommt es zu einer entscheidenden Annäherung an die EU.
Nun bin ich zum dritten Mal hintereinander in der Türkei. Unsere Fraktion hat mich gebeten, eine Delegation in dieses Land zu leiten, um aus erster Hand Informationen über den Reformprozess zu erhalten, aber auch, um sowohl mit Vertretern der islamischen Regierungspartei als auch der „sozialdemokratischen“ Opposition die Bemühungen der Türkei um eine Mitgliedschaft in der EU zu diskutieren.

Klare und deutliche Reformbereitschaft

Die Gespräche mit Ministerpräsident Erdogan, Außenminister Gül sowie Justizminister Cicek waren ausführlich und fanden in ungeheurer Offenheit statt. Noch nie hatten wir so klare Reformabsichten gehört wie von den Vertretern dieser Regierung. Und bisher sind diese Absichten auch von konkreten Gesetzesbeschlüssen begleitet worden.
Leider hat es erst einer Regierung aus Vertretern der islamischen AKP bedurft, damit die entscheidenden Reformen angegangen werden. Und erst mit ihnen hören wir die Überzeugung, dass sie diese Reformen schon aus eigenem Interessen, also im Interesse der Bevölkerung der Türkei durchführen müssen und nicht nur, um den Weg nach Europa zu erleichtern. Um wie viel lieber hätten wir dies von den Vertretern der laizistischen Partei gehört. Aber diese hatten Angst vor den Reformen und brachten nicht den Mut auf, dem Militär einige wichtige Reformschritte abzutrotzen.

Keine Erstarkung Islamismus

Gibt es eine „hidden agenda“?, also geheime Absichten der Islamisten, die die hohe Reformbereitschaft dieser Regierung begründen und begleiten? Nun, sowohl die Opposition also die Republikanische Partei, die ihre Gründung auf Atatürk zurückführt, wie auch die Vertreter der Zivilgesellschaft, die wir in Istanbul getroffen haben, glauben dies. Zumindest gehen sie davon aus, dass es bei der AKP Strömungen gibt, die eine – wenngleich sanfte – Islamisierung des Landes anstreben. Zeichen dafür sind der Versuch, viele neue Imame, also islamische Geistliche, zu bestellen bzw. die Universitätsreform, die unter dem Titel der Autonomie vor allem bei den Universitäten in den Regionalstädten, den Islamisten mehr Chancen brächten.
Wir versuchten bei unseren Gesprächen immer wieder, eine doppelte Botschaft zu vermitteln. Reformen im Land sind notwendig, und insbesondere das Militär muss sich aus der Politik zurückziehen. Aber diese Demokratisierung sollte nicht zu einer Erstarkung islamistischer Kräfte führen. Es muss starke zivile Kräfte geben, die Demokratie und Laizismus bewahren müssen. Ähnliches gilt für die Gefährdung durch kurdische „Separisten“. Auch sie müssen durch zivile Kräfte und Institutionen gebändigt und in die Gesellschaft integriert werden.

Wie geht es weiter?

Wenn die Türkei die notwendigen Gesetzesvorhaben mit diesem Reformtempo beschließt und überdies die Reformen auch umsetzt, dann kommt es zu einer entscheidenden Annäherung an die EU. Ob es reicht, um Ende 2004 mit der Türkei die Verhandlungen aufzunehmen, bleibt abzuwarten.
Ob und warum es zu einer Mitgliedschaft kommt, ist aber damit noch nicht entschieden. Das hängt einerseits davon ab, wie der gegenwärtige Reformprozess bewältigt wird und andererseits davon, wie die Türkei in die immer enger und stärker gemeinschaftlich gestaltete EU integriert werden kann. Die vornehmlich islamische Bevölkerung scheint mir dabei kein grundsätzliches Problem darzustellen. Vielmehr schon die Größe des Landes, seine Grenzen, beispielsweise zu Armenien, Georgien, Syrien und dem Irak, würden der EU völlig neue Außengrenzen verschaffen und sie direkt in der nah-östlichen Region verankern. Eine Mitgliedschaft der Türkei bedeutet jedenfalls einen neuen Akzent im gemeinsamen Europa mit vielen Vorteilen für die internationale Rolle unseres Kontinents, aber auch mit neuem Konfliktpotential!

Streitpunkt Kurdenfrage

In ihrer Art und ihrer Entschlossenheit, den eingeschlagenen Reformweg zu gehen, waren unsere drei Hauptsgesprächspartner seitens der Regierung, Ministerpräsident Erdogan, Außenminister Gül und Justizminister Cicek durchaus beeindruckend. Nur in der Kurdenfrage wiederholten sie vielfach den eingefahrenen Standpunkt und zeigten wenig Flexibilität. So ist auch zu befürchten, dass das angekündigte Amnestiegesetz für die kurdischen Separatisten wenig bewirken wird. Denn wenige von ihnen werden sich nach abgelegter Reue registrieren lassen, um in ihre Familien zurückkehren zu können. Ohne Gelassenheit und Blick in die Zukunft kann aber die Türkei den politisch interessierten Kurden keine Zukunft in ihrem Land bieten.

P.S.:
Inzwischen wurde auch das 7. Reformpaket im Parlament beschlossen, inklusive der Zurückdrängung des Militärs und dem „Amnestiegesetz“!
Istanbul, 11.7.2003