Besetzung von innen

Ich habe es nie für möglich gehalten, dass ein Volk, dem soviel Leid angetan worden ist, ein anderes Volk so unterdrücken und so unmenschlich behandeln kann.
Hatte mich schon der erste Tag meines Aufenthaltes in Palästina und in Israel deprimiert, so war der zweite Tag in seinen Eindrücken fast noch schlimmer.

Wir fuhren nach Hebron. Dort trafen wir einige politische Vertreter der hiesigen Bevölkerung, so auch den Bürgermeister. Einige Bürger teilten zu diesem Zeitpunkt gerade dem Bürgermeister und dann uns mit, dass sie soeben die Aufforderung erhalten hatten, sich am nächsten Tag beim israelischen Militär einzufinden. Ihr Haus sollte niedergerissen, ihr Grundstück enteignet werden, da mitten durch die Altstadt eine Straße zur Verbindung einiger israelischer Siedlungsgebiete gebaut werden sollte. Die Zufahrt zu diesen Häusern wurde uns selbstverständlich verwehrt.

Totes, abgewürgtes Zentrum

Wir hatten insgesamt Mühe, uns dem Zentrum der Stadt zu nähern. Das letzte Stück in Richtung Ibrahim-Moschee durften nur jene antreten, die keine Moslems waren. Ein Teil der Moschee ist abgetrennt und den Juden zur Verehrung Abrahams zur Verfügung gestellt worden. Aber es geht dabei primär nicht um religiöse Gründe, denn viele Häuser wurden enteignet und mit jüdischen Siedlern besetzt. Die wenigen verbliebenen Araber sitzen hinter Gittern, ihre Bewegungsfreiheit ist massiv eingeschränkt und unterliegt dem Belieben des Militärs.

Ich habe es nie für möglich gehalten, dass ein Volk, dem soviel Leid angetan worden ist, ein anderes Volk so unterdrücken und so unmenschlich behandeln kann. Dieses tote, abgewürgte Zentrum von Hebron, das entweder zerstört oder jüdischen Siedlern angeeignet wird, hat mich ungemein traurig gemacht. Und ich konnte kaum die Hilflosigkeit der palästinensischen Bevölkerung ertragen.

Unerträgliche Hilflosigkeit

Diese Hilflosigkeit bestätigte abends beim Essen eine israelische Anwältin, die – fast immer vergebens – versucht, jene Palästinenser zu vertreten, deren Hab und Gut geraubt wird. Das Militär braucht nur das Zauberwort „Sicherheit“ auszusprechen, und schon stimmen die Gerichte den Zerstörungsmassnahmen zu. Die Menschenrechte der Bevölkerung zählen hier wenig. Der jüngste Fall, den besagte Anwältin behandelt, ist der angeordnete Abriss eines Hauses mit acht Wohnungen. In einer Wohnung dieses Hauses wohnt eine Selbstmordattentäterin. Alle anderen Einwohner sollen aber mitbüßen. Diese Sippenhaftung ist mit einem Rechtsstaat nicht vereinbar und mit Sicherheitsargumenten nicht begründbar. Ein derartiges Verhalten ist nur aus den dunkelsten Epochen der europäischen Geschichte bekannt.

Die Wurzel des Übels

Es war übrigens in Hebron, wo am 25. Februar 1994 ein Massaker stattfand, das als Tiefpunkt in die Geschichte der Beziehungen zwischen Israelis und Palästinensern eingegangen ist. An jenem Tag kam einer der Siedler, Baruch Goldstein, ein Anhänger des rassistischen Rabbi Meir Kahane, in die Moschee, gab mit einer automatischen Waffe 111 Schüsse ab und tötete dadurch – je nach Zählung – zwischen 39 (israelische Angaben) und 52 (palästinensische Angaben) Gläubige.

Dieses Massaker, das sich unwürdig in eine Reihe anderer Massaker an Palästinensern – so etwa jenes von Sabra und Shatila in einem Lager im Libanon, für das Ariel Sharon mitverantwortlich gemacht wird – einreiht, bewirkte nicht nur eine schwere Störung in den Nah-Ost Gesprächen der beiden Kontrahenten, sondern zog unzählige Attentate und Massaker an der jüdischen Bevölkerung nach sich, um die getöteten Moslems zu rächen.

Minimaler Hoffnungsschimmer

Kaum jemand sieht ein, dass diese Racheakte Niemanden mehr lebendig machen, dass sie neues Unheil auf beiden Seiten bringen und immer wieder ein Stück Hoffnung begraben. Aber weder die Extremisten im palästinensischen Lager noch die gegenwärtigen militärischen und politischen Verantwortlichen in Israel sind diesen Argumenten zugänglich.

Der neue Vorsitzende der Labour Party, Amram Mitzna, scheint eine Ausnahme zu sein. Sowohl hinsichtlich der israelischen Präsenz in Gaza als auch in Hebron scheint er einen vernünftigen Standpunkt zu haben. Aber wie viel wird er nach den Wahlen zu reden haben? Auf eine Antwort darauf warten viele, in Israel, in Palästina und auch in Europa!
Hebron/Jerusalem, 2.12.2002