Brief an einen Kritiker

Die Lösung im Nahen Osten kann nur in der Existenz zweier Staaten Israel und Palästina bestehen – dies sagt auch der UN-Beschluss von 1947.
Immer wieder wurde ich in den vergangenen Wochen und Monaten mit – teils heftiger – Kritik an meiner Haltung in der Nahost-Frage konfrontiert. Leider war diese Kritik meist nur wenig fundiert. Oft hatte ich dabei den Eindruck, dass, was man nicht sehen und hören will, man ganz offensichtlich auch nicht sieht und hört.
Eine solche ganz persönliche Kritik – aus den eigenen Reihen – habe ich in einem umfangreicheren Brief beantwortet:
„Lieber Freund!
Danke für Deinen Brief vom 23. Juli d.J., den ich urlaubsbedingt erst jetzt beantworte.
Abgesehen von den persönlichen Bemerkungen, für die ich Dir sehr dankbar bin und die ich mit gleicher Überzeugung Dir gegenüber ausdrücken möchte, habe ich die Absicht, auf Deine Einwände einzugehen, die mir und anderen immer wieder entgegengehalten werden. Meine Bemerkungen dazu möchte ich auch in meinen Tagebuhaufzeichnungen „Tour d´Europe“ sowie auf meiner Homepage veröffentlichen, da sie allgemeiner Natur sind.
1.)
Dich bedrückt, so schreibst Du in Deinem Brief, „dass sich ein partei- und länderübergreifender propalästinensischer Mainstream herausgebildet hat, der die vitalen Interessen Israels beeinträchtigt und die aus einer leidvollen Geschichte resultierende Verpflichtung Österreichs, Deutschlands und Europas negiert“.
Ich sehe diesen Mainstream nicht. Kaum ein prominenter und ernstzunehmender Politiker, Historiker, etc. verneint das Recht Israels auf sichere Existenz im Nahen Osten bzw. verteidigt oder rechtfertigt den Terrorismus! Wird nicht gerade das Leben vieler Israelis durch die Verweigerung des Existenzrechtes eines palästinensischen Staates gefährdet? Es gibt einige prominente Israelis, aber auch Juden außerhalb Israels, die dies genauso sehen. Mann kann es zweifellos anders sehen, aber diese Sichtweise prominenter jüdischer Vertreter kann man weder Antisemitismus noch eine antiisraelische Haltung unterstellen. Ich habe auf mehreren Reisen gesehen, wie der palästinensischen Bevölkerung die Lebensadern zugeschnürt werden, wie ihre Existenzgrundlagen vernichtet werden, nicht zuletzt durch die Errichtung einer schändlichen Mauer, die ja nicht Israel von Palästina trennt, sondern vielen Palästinensern zusätzlich Land und Lebensgrundlagen raubt. Ich habe tiefe Bewunderung für alle jene Israelis, die versuchen, diese israelische Politik zu verhindern und die – natürlich von ihrer Heimat unbedankt – den Palästinensern etwa mit Medikamenten und lebenswichtigen Gesundheitsleistungen helfen.
Man muss schon die Gegebenheiten vor Ort sehen und erleben, um sie beurteilen zu können. Dabei spreche ich nicht von Erschießungen von tatsächlichen oder vermeintlichen Hamasangehörigen. Ich spreche von den tagtäglichen Schikanen gegenüber offensichtlich friedliebenden Menschen.
Aus all dem habe ich niemals ein Recht auf Terrorismus abgeleitet. Jede Art von Terror ist mir zuwider, jede Art von unnötiger oder exzessiver Gewaltanwendung ist aus Gründen der Humanität abzulehnen. Aber dies gilt für alle Seiten in diesem Konflikt. Und die unermessliche Schuld, die viele in Europa und primär in Nazideutschland, zu dem ja auch Österreich gehört hat, auf sich geladen haben, kann nicht dadurch wettgemacht werden, dass wir eine Seite generell exkulpieren. Wir sind mitschuldig und haben Verpflichtungen gegenüber Israel, aber aus dem selben Grund haben wir auch eine Verpflichtung gegenüber den Palästinensern, denn deren heutige Situation steht in engem Zusammenhang mit der Gründung Israels. Und die Lösung kann nur in der Existenz zweier Staaten Israel und Palästina bestehen – dies sagt auch der UN-Beschluss von 1947. Dass nicht zuletzt durch die Schuld vieler arabischer Führer heute nur ein palästinensischer Ministaat entstehen kann, bestreitet ohnedies niemand, aber auch diejenigen, die Kriege gewinnen, haben Verpflichtungen. Und inzwischen hat ja sogar schon Scharon zum Ausdruck gebracht, dass die andauernde Besetzungspolitik Israel selbst schaden würde.
2.)
Was nun die Vorwürfe der Finanzierung des palästinensischen Terrors betrifft, so habe ich immer zum Ausdruck gebracht, dass man diese Vorwürfe ernst nehmen muss. Wir haben uns im Europäischen Parlament mehrmals damit beschäftigt. Von niemandem, der diese Vorwürfe erhebt – etliche davon sind Mitglieder des Europäischen Parlaments – wurden konkrete Anhaltspunkte vorgelegt. Dies gilt auch für die israelische Botschaft in Brüssel. Die deutsche Wochenzeitung „Die Zeit“, die ausführlich die Vorwürfe wiedergegeben hat, hat sich überdies geweigert, eine Gegendarstellung von Kommissar Patten zu veröffentlichen. Angesichts dieser Situation habe ich gegen einen Untersuchungsausschuss gestimmt, da viele, die ihn gefordert haben, die zu untersuchenden Sachverhalte bereits als belegte Tatsachen in der Öffentlichkeit dargestellt haben. Angesichts der Propaganda, die in diesem Zusammenhang gemacht wurde und übrigens des Drucks, den viele beispielsweise auf bzw. gegen mich ausüben, würde ich eher von einem proisraelischen Mainstream als von einem propalästinensischen sprechen.
Schon während die Unterschriftenaktion für den Untersuchungsausschuss gelaufen ist, hat sich eine informelle Arbeitsgruppe aus dem Budget-, dem Budgetkontroll- und dem außenpolitischen Ausschuss gebildet, die die Finanzgebarung der palästinensischen Behörde untersucht hat. Durch Beschluss der Konferenz der Präsidenten des Europäischen Parlaments wurde diese Arbeitsgruppe formalisiert. Eine Reihe dieser Mitglieder gehören offen der proisraelischen Lobby an. Aber auch sie konnten bisher keine Hinweise auf eine Terrorfinanzierung durch die EU finden. Aber wir haben unsere Arbeit noch nicht abgeschlossen und werden selbstverständlich einen öffentlich zugänglichen Bericht an das Plenum des Parlaments verfassen.
Auch die Inhalte der palästinensischen Schulbücher werden wir überprüfen, wobei anzumerken ist, dass die EU keine (!) Schulbücher finanziert. Aber unabhängig davon werden wir eine Beurteilung vornehmen. Bereits jetzt zeigt sich allerdings, dass auf beiden Seiten die Geschichte der Region sehr einseitig dargestellt wird. Jedenfalls niemand von uns wird dafür Verständnis aufbringen, wenn schon Kindern Hass und Intoleranz vermittelt werden.
Ich könnte es mir natürlich viel einfacher machen und das Unrecht an den Palästinensern negieren und nur den Terror gegen Israel kritisieren. Ich könnte mir dadurch viel Kritik, den absurden Vorwurf des Antisemitismus (nicht von Dir!) bzw. einer antiisraelischen Haltung ersparen. In der Politik allerdings nur nach Bequemlichkeit zu agieren, möglicher Kritik, ja geradezu Verleumdungen auszuweichen – wäre das ein Weg, den Du selbst einschlagen würdest?
Israels Bevölkerung könnte vielmehr dadurch geholfen werden, würden mehr Freunde Israels die Friedenskräfte unterstützen – nicht nur mit Sympathie im Herzen, sondern öffentlich. Diese fühlen sich oft sehr allein gelassen! Angesichts der Politik Scharons – jedenfalls unter Achtlassung des Drucks der Amerikaner – und der Wankelmütigkeit eines Arafat – sollten da nicht mehr Freunde Israels für einen dauerhaften Frieden eintreten? Und dauerhaft ist ein Frieden nur dann, wenn er die vitalen Interessen beider Seiten berücksichtigt!
3.)
Meine Position bringen dabei durchaus einige Israelis selbst zum Ausdruck, beispielsweise der Schriftsteller Amos Oz, wenn er kürzlich meinte: „Der Wahnsinn verschwindet nicht, indem wir ihn zerschlagen. Wir müssen vor allem auf die gesunden Elemente setzen, auf die schweigenden Mehrheiten, auf die pragmatischen Kräfte in all diesen infizierten Gesellschaften und Kulturen, wir müssen sie stärken und ihnen Mut machen.“ An anderer Stelle meinte er: „´Gleichzeitigkeit´ ist das Stichwort. Palästina muss die Terrorgruppen entwaffnen, und gleichzeitig muss Israel, notfalls mit Gewalt, die illegalen Siedlungen auflösen.“
Zum Abschluss möchte ich den israelischen Journalisten und Historiker Tom Segev zitieren: „Das sind die großen Probleme: Flüchtlinge, Siedler, der Status von Jerusalem. Diese Probleme sind alt und lassen sich nicht in zwei, drei Jahren ausräumen. Die Auseinandersetzungen lassen sich höchstens auf eine rationalere Art führen, als es bisher geschehen ist. Für Israel bedeutet das, eine Reihe von Sofortmassnahmen zu ergreifen: die Beendigung der systematischen Menschenrechtsverletzungen in den besetzten Gebieten, die Beendigung der Kollektivstrafen wie dauerhaft, Verkehrsbeschränkungen oder das Abreißen palästinensischer Häuser. (…) Es gibt keine Rechtfertigung dafür, dass man Menschen demütigt, die eine Straße benützen müssen, um zur Arbeit zu kommen, zur Schule oder zu einem Krankenhaus. (…) Inzwischen darf man von den Palästinensern erwaten, dass sie alles in ihrer Macht stehende tun, um den Terror zu stoppen, die Hetze gegen Juden in ihren Medien zu beenden und ihre Schulbücher, mit denen eine neue Generation zum Hass gegen Israel erzogen wurde, zu formulieren.“
Ja, eine solche Ausgewogenheit der Ansichten, die unterstütze ich vollkommen, und man kann mir nichts anderes vorwerfen, als dass ich ähnliches gesagt habe. Aber ich weiß, dass inzwischen auch manche kritische Juden selbst den Vorwurf des Antisemitismus entgegengeschleudert bekommen, so beispielsweise Judith Butler, eine anerkannte Philosophin der Universität Berkeley, die sich kürzlich gefragt hat, wie eine Kritik Israels „im Namen des eigenen Judentums, im Namen der Gerechtigkeit“ als gegen das Judentum selbst gerichtet erscheinen könne. Henning Ritter hat dazu jüngst in der FAZ gemeint, dass es dazu kommen könnte, dass „die israelische Politik heute nicht mehr weiß, wer ihre Freunde und wer ihre Feinde sind“.
Bei manchen, denen ich persönlich nahe stehe, verspüre ich ebenfalls diese Desorientierung. Ich hoffe, Du gehörst nicht dazu und verbleibe
mit herzlichen Grüssen
Dein Hannes“

5. September 2003