Der Wunsch nach mehr Sensibilität

Der Grund, warum es oft zu einer antieuropäischen bzw. antiwestlichen Haltung kommt, ist in der Reaktion auf das Gefühl begründet, dass der Westen nach wie vor als Kolonialmacht auftritt.
Heute Früh haben wir Abdalkader Bensalah, den Präsidenten des Senats, also der zweiten Kammer des Parlaments, besucht.

Brennpunkt Naher Osten

Ich habe Bensalah schon einige Male getroffen. Auch er hat sich an mich erinnert und hat mich aufgefordert, durchaus kritischere Fragen zur Entwicklung Algeriens zu stellen. Es war für mich interessant, dass die Form der Kritik, die ich ohnehin gewählt hatte, von ihm als zu milde aufgefasst worden ist. Vor einigen Jahren wäre sie noch als Beleidigung interpretiert worden. Ein Indiz dafür, dass doch gewisse Fortschritte erzielt worden sind!
Das Treffen mit Präsident Bensalah und anderen Vertretern verschiedener politischer Gruppen innerhalb des Senats hat eine volle Bandbreite von Problemen zutage gefördert. In erster Linie waren dies Probleme in Zusammenhang mit der Situation im Nahen Osten und dem diesbezüglichen mangelnden Profil Europas gegenüber den USA. Während all unserer Diskussionen wurde immer wieder eine stärkere eigenständige Position von Europa gefordert und kritisiert, dass zu wenig unternommen wird, um auch den Rechten der Palästinenser zum Ziel zu verhelfen. Zwar wurde auch unterstrichen, dass ein Abkommen mit Israel notwendig ist. Aber vor allem die Tatsache, dass Europa auch nach der Einigung in der Regierung und nach der Anerkennung der bisherigen Verhandlungsergebnisse mit Israel die Regierung in Palästina noch immer nicht klar unterstützen möchte, wurde bemängelt. Aus meiner Sicht haben die algerischen Vertreter mit ihrer Kritik durchaus Recht.

Konflikte auch innerhalb der arabischen Welt

Unser Gespräch ging nahtlos in ein Treffen mit dem Vizepräsidenten des Parlaments und den Fraktionsvorsitzenden der in der ersten Kammer vertretenen politischen Gruppierungen über. Bei diesem Treffen habe ich doch etwas emotional reagiert. Ich bekannte, mit allen genanten Kritikpunkten übereinzustimmen.
Ich gab aber auch zu verstehen, dass es sich nicht nur um einen Konflikt zwischen West und Süd, also eine Auseinandersetzung Europa/Amerika gegen die arabische Welt handelt, sondern dass es auch innerhalb der arabischen Welt große Auseinandersetzungen gibt: die Bürgerkriegssituation im Libanon, die bis vor kurzem herrschenden Bürgerkriegssituationen in Palästina und nicht zuletzt die Kämpfe zwischen Schiiten und Sunniten im Irak. Man sollte vor diesem Hintergrund also nicht allzu einseitig argumentieren.

Islamisch gemäßigte Partei MSP

Beim nachfolgenden Arbeitsmittagessen kam ich neben einem Vertreter der MSP, einer der gemäßigten islamischen Parteien, die auch in der Regierung vertreten ist, zu sitzen. Die MSP hatte, weil sie zu sehr an der Regierung hängt, bei den letzten Wahlen entsprechende Stimmverluste zu verzeichnen. Es ist eigenartig: Sie ist eine islamisch orientierte Partei, hat aber auch unter dem Terrorismus gelitten und durch den Terrorismus unzählige MitarbeiterInnen verloren.
Es ist nicht klar, was sie als islamische Partei von einer Regierung mehr erwartet. Zweifellos geht es ihr in erster Linie um moralische Fragen. In diesem Sinn haben die gemäßigten Islamisten ähnlich wie früher die katholisch-konservativen oder christlich-konservativen Parteien gesellschaftspolitischen Fragen gegenüber eine wesentlich engere und konservative Auffassung. Die MSP ist aber auch eine soziale Partei, weil sie auf die soziale Situation relativ stark Bezug nimmt.

Religion wird in den Vordergrund gerückt

Mein bereits erwähnter Tischnachbar war ein Professor der Astrophysik, der sein Studium in Amerika absolviert hat. Er meinte: „Bei uns im Maghreb nimmt der Islam eine andere Rolle ein als im Rest der islamischen Länder. Wir üben mehr Toleranz und haben keinerlei Probleme im Zusammenleben mit den Christen und den Juden.“ Er gab zu, dass es richtig sei, dass es in Algerien eine Art islamisches Erwachen und eine stärkere Religiosität gibt. Das beeinflusse aus seiner Sicht aber kaum das Verhältnis zum Staat.
Diese Aussage erinnerte mich an ein Gespräch mit einem Journalisten, der meinte, der Terrorismus sei zwar zu Ende, nicht aber der Integrismus, also die Bewegung, die die Religion und mit ihr den Fundamentalismus stärker in den Vordergrund rückt. Ein großes Problem, das von der MSP und den Islamisten aufgegriffen wird, ist die hohe Arbeitslosigkeit. Die Partei richtet sich zudem in erster Linie an die Jugendlichen. Etwa 60 % der algerischen Bevölkerung sind unter 25 Jahren alt.

Bei Außenminister Mohamed Bedjaoui

Am Nachmittag trafen wir Außenminister Mohamed Bedjaoui, der uns zu einem ausführlichen Gespräch empfangen hat. Auch hier reichte der Bogen unserer diskutierten Themen vom Nahen Osten bis zur Westsahara. Ich habe den Außenminister auch hinsichtlich des Iran befragt. Er antwortete mir ganz unmissverständlich, dass eine Lösung im Nahen Osten ohne den Iran als eine große Zivilisation nicht möglich sein wird.
Es sei so gesehen ein Irrtum des Westens zu glauben, man könne den Iran einfach auf die Seite schieben. Hinsichtlich der Beziehungen zwischen Europa und Nordafrika zeigte sich der Außenminister einem weiteren Ausbau im Rahmen der Nachbarschaftspolitik gegenüber offen und zuversichtlich.

Bei Kulturministerin Khalida Toumi

Bei einem anschließenden Treffen mit den Botschaftern Italiens, Spaniens und Österreichs – jener drei Länder, aus denen die TeilnehmerInnen unserer Delegation stammten – tauschten wir unsere Meinungen über die Entwicklungen in Algerien aus. Danach brachen wir ins Kulturministerium auf, das im Kulturpalast untergebracht ist und einen herrlichen Blick auf die Bucht von Algier bietet.
Die Kulturministerin, Khalida Toumi, ist eine faszinierende Frau und könnte ihr Amt in jedem anderen, auch westlichen Land ausüben – nicht nur aufgrund ihrer Kleidung und ihrer äußeren Erscheinung, sondern vor allem aufgrund ihrer Lebendigkeit und ihrem großen Engagement für Film, Theater und Kultur generell. Es ist mehr als offensichtlich, dass diese außergewöhnliche Politikerin nicht aus der normalen Nomenklatura kommt, sondern aus einer der Oppositionsparteien, RCD, die allerdings zuletzt nicht für das Parlament kandidiert hat. Khalida Toumi war trotzdem von Bouteflika persönlich gebeten worden, in die Regierung einzutreten. Und sie leistet dort, soweit ich das als Außenstehender einschätzen kann, ganz hervorragende Arbeit.

Zweiklassen-Gesellschaft

Trotzdem bezweifle ich, dass all das, was sie tut, auch tatsächlich zu allen Regionen und Gesellschaftsschichten durchdringt. Wie es auch bei uns oft der Fall ist, wird es wohl eher zu einer Konzentration auf die Städte und ein urbanes Publikum kommen. So gesehen mag zutreffen, was mir die österreichische Botschafterin berichtet hatte. Insbesondere in den ländlichen Gebieten trügen alle fast Mädchen Kopftücher, es würden kaum fremde Sprachen gelehrt und die Welt würde in ihrer eigentlichen Form nur sehr rudimentär gezeigt – was übrigens auch auf das staatliche Fernsehen zutrifft.
So kommt es zu einer gewissen Zweigleisigkeit: zu einer Schicht von Menschen, die an internationalen Verhältnissen interessiert ist und viel unternimmt, um zu lernen und – insbesondere nach Frankreich – zu reisen, und zu einer anderen Schicht von Menschen, die heute vielleicht noch traditioneller aufwächst, als das früher der Fall gewesen ist. Gerade in dieser Frage, die ich selbst angeschnitten hatte, nahm Khalida Toumi durch ihr eigenes Selbstverständnis als Kulturministerin eine rosigere Einstellung ein.

Mehr Sensibilität für die Verhältnisse

Die Kulturministerin gab uns in unserem Gespräch zu verstehen, wie furchtbar aus ihrer Sicht die Vollstreckung des Todesurteils an Saddam gerade zum Zeitpunkt des Opferfestes gewesen sei. Für die islamische Bevölkerung hätte dieses Vorgehen eine besonders negative Signalwirkung gehabt. Und es sei zudem nicht mit irakischen Politikern verbunden, sondern mit Bush und letztendlich dem Westen.
Aus diesem Grund appellierte Toumi, wesentlich sensibler auf die Verhältnisse einzugehen, um verstehen zu können, warum es oft zu einer antieuropäischen bzw. antiwestlichen Haltung kommt. Diese sei eine Reaktion auf das Gefühl, dass der Westen nach wie vor als Kolonialmacht auftritt, der nach wie vor die arabische Bevölkerung dominieren will. Dies könne allerdings von der Bevölkerung in keinem Fall akzeptiert werden.

Hassliebe zu Frankreich

Am Abend fand ein Arbeitsessen statt, an dem verschiedene Vertreter aus dem Senat teilgenommen haben, die seit der französischen Kolonialisierung gegen die Kolonialmacht gekämpft haben. Diese Mujahedins werden noch immer als Helden und Märtyrer verehrt und sind gesellschaftlich anerkannt.
Das ist zwar einerseits ein schönes Zeichen, trägt aber andererseits selbst dazu bei, dass vorhandene Wunden nicht verheilen. Und gerade hier handelt es sich um Personen, die mit einer Hassliebe zu Frankreich verbunden sind – einerseits können sie die koloniale Herrschaft nicht vergessen, andererseits reisen sie oft nach Frankreich und interessieren sich für die dortigen Verhältnisse und Entwicklungen in besonderem Maße.

Algier, 19.2.2007