Fortschritt mit Hindernissen

Algerien braucht braucht eine offene Diskussion und Auseinandersetzung über Tabu-Themen wie zum Beispiel die Frage der Verschwundenen.
Heute Mittag bin ich nach Algerien aufgebrochen. Ich flog über Rom, wo ich etwa zwei Stunden Aufenthalt hatte, nach Algier und landete gegen fünf Uhr nachmittags. Da es keine Zeitverschiebung gab, waren auch kein Umstellen der Uhren oder des Körpers notwendig.

Rückblick

Vom Flughafen wurden wir mit einer Polizeieskorte in die Residenz El Mithak, die offizielle Residenz der algerischen Regierung, gebracht. Es ist jetzt ca. 10 Jahre her, dass ich das erste Mal in dieser Residenz übernachtet habe. Damals hatten wir im Europäischen Parlament nach langem Tauziehen eine Ad-hoc-Delegation einberufen, um die Ursachen des Terrorismus und die Probleme der Terrorismusbekämpfung zu beleuchten.
Das Tauziehen hatte weniger die innereuropäischen Verhältnisse betroffen als vielmehr den Widerstand Algeriens gegen den Besuch einer derartigen Kommission. Allein die von uns damals gestellte Frage, wer wen tötet, ist von den algerischen Behörden als Provokation aufgefasst worden. Diese Frage bzw. die mit dieser Frage verbundene Behauptung, dass nur bzw. auch die algerischen Behörden, Militärs und Polizei Menschen entführen, töten, etc., wurde als immense Beleidigung empfunden. Zumindest für das offizielle Algerien stand fest, dass diese Untaten ausschließlich von Terroristen begangen worden sind.

Feststellungen

Nach den vielen Informationen, die wir über die Jahre erhalten haben, gehe ich davon aus, dass es den islamisch begründeten Terrorismus mit seinen schrecklichen Aktivitäten tatsächlich gegeben hat – und in resten noch gibt. Trotzdem schließe ich keineswegs aus, dass auch aus den Reihen der algerischen Polizei und Armee verschiedene grobe Menschenrechtsverletzungen bis hin zu Entführungen und Tötungen durchgeführt worden sind. Wahrscheinlich wurden bestimmte Situationen oft ausgenützt. Vielleicht wollte man den Terrorismus auch als besonders schlimm und gefährlich darstellen und die Macht der Machthaber, allen voran des Militärs, unterstreichen.
Es gibt unzählige Gründe in einer derartigen dunklen und undurchsichtigen Situation. Und es ist schwer, die einen Taten von den anderen zu unterscheiden und zu trennen. Jedenfalls haben wir damals klar festgestellt, dass es den Terrorismus islamischer Natur zweifellos gibt, dass wir aber auch von Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitskräfte des Staates in Kenntnis gesetzt worden sind. Mehr konnten wir nicht tun.

Al-Kaida-Ableger

Inzwischen hat der heimische inneralgerische Terrorismus mehr oder weniger ein Ende gefunden. Es hat allerdings zuletzt erneut einige terroristische Anschläge gegeben, die von einer neu formierten bzw. unbenannten Gruppe kommen dürften, die sich als Al-Kaida- Ableger für den Maghreb versteht.
Insofern ist dieses Thema also noch nicht restlos vom Tisch. Es muss mit entsprechenden Aktivitäten in Algerien, aber auch in Tunesien und Marokko gerechnet werden. Ich hoffe, dass die vereinbarte Zusammenarbeit der Sicherheitskräfte dieser drei Länder gegen den Terrorismus dazu beiträgt, die Aktivitäten dieser Gruppe auf einem möglichst niedrigen Niveau zu halten.

Der Erzbischof von Algier

Unser Reiseprogramm in Algerien war diesmal von Begegnungen mit religiösen Führern eingerahmt. So sollten wir unseren Aufenthalt mit einem Gespräch mit dem Chef des Obersten Islamischen Rates beenden. Begonnen haben wir ihn mit einem Treffen mit dem Erzbischof von Algier.
Der Erzbischof von Algier muss nicht besondere viele Menschen betreuen. Wahrscheinlich gehören der kleinsten Pfarre in Wien mehr Gläubige an als seiner Gemeinde in Algier. Trotzdem ist es ein gutes Zeichen, dass es hier nach wie vor einen äußerst anerkannten, offenen und dialogbereiten Erzbischof gibt, für den es in einem Land, in dem der Islam offiziell als Staatsreligion anerkannt ist, zweifellos nicht einfach ist, zu agieren.

Religion als Hauptbeschäftigung

Ich hatte den Erzbischof bereits bei meinem ersten Besuch vor 10 Jahren getroffen – damals gemeinsam mit dem Präsidenten des Obersten Islamischen Rates. Er ist in all seiner Bescheidenheit eine beeindruckende Persönlichkeit und schilderte uns die Veränderungen in Algerien aus seiner Sicht. Er kritisierte auch die wachsende Religiosität der Menschen – was für einen Erzbischof etwas merkwürdig klingen mag. Für ihn, so der Erzbischof, sei Religion eine Inspiration.
In Algerien würde Religion hingegen immer mehr zu einer Hauptbeschäftigung. Es ginge permanent darum zu überlegen, was erlaubt ist und was nicht. Es komme zum Einschieben freiwilliger Fastentage, die Fastenzeit im Ramadan sei um eine Woche verlängert worden, wenn auch auf freiwilliger Basis. Insgesamt ist es also offensichtlich zu einem starken religiösen Druck gekommen, der sich nicht unmittelbar und unbedingt politisch auswirkt. Aber auch im Regime selbst und beim Präsidenten sei eine stärkere religiöse Orientierung zu bemerken.

Dialogbereiter Vatikan?

Der Erzbischof von Algier hat in unserem Gespräch außerdem festgestellt, dass die Erklärungen des Papstes, die dieser kurz nach seinem Amtsantritt in Bayern abgegeben hat, aus seiner Sicht absolut katastrophal gewesen sind. Er hat darüber auch mit Spitzenvertretern der Kurie im Vatikan gesprochen und seine eigene Position klargelegt. Uns gegenüber formulierte er den ganz eindeutigen Wunsch nach einer vernünftigen, dialogbereiten Haltung des Vatikans.
Hinsichtlich seines religiösen Vis-à-vis, dem neuen Präsidenten des Islamischen Rates, meinte der Erzbischof, dass dieser ein durchaus aufrechter Mann sei, der allerdings engstirnigen islamischen Auslegungen gegenüber weniger Mut und Widerstand entgegenbringe als sein Vorgänger.

Frage der Verschwundenen ist tabu

Am Abend haben wir einer intensiven und kontroversiellen Auseinandersetzung zwischen mehreren Journalisten beigewohnt. Die Situation der Medien in Algerien hat sich zwar insgesamt sehr verbessert – die scharfen Restriktionen, zu denen es immer wieder gekommen ist, etwa in Form der Begrenzung von Papier, gibt es heute nicht mehr. Allerdings bestehen nach wie vor einige Tabus, deren Verletzung auch heute noch mit Strafen und Gefängnis geahndet werden können und auch geahndet worden sind – wenngleich zurzeit keine Journalisten inhaftiert sind.
So ist es zum Beispiel verboten, die Frage der Verschwundenen aufzugreifen. Und zwar mit dem Argument, dass alte Wunden, die nach der offiziellen Versöhnung entsprechend verheilen sollten, wieder aufgerissen werden. Im Laufe der Gespräche während unseres Aufenthaltes in Algerien haben wir gerade diese Frage immer wieder angeschnitten. Ich persönlich teile im Grundsatz die Meinung jener, die kritisieren, dass es nicht ausreicht, ein Gesetz zu erlassen und so zu tun, als wäre alles Vergangenheit, über die nicht mehr gesprochen werden soll. Die betroffenen Familien mit einer kleinen finanziellen Entschädigung abzuspeisen, ist zu wenig. Das Land braucht eine offene Diskussion und Auseinandersetzung über diese Frage. Und es braucht ein Verzeihen, das von jedem Einzelnen vorgenommen werden muss und nicht von oben verordnet werden kann.

Sich in Verzeihung üben

Es kommt in diesem Zusammenhang auch immer wieder zu einem Vergleich mit Spanien, das zwar auch keine Aufarbeitung durchgeführt hat, aber wo es dennoch zu einem breiten Konsens gekommen ist, die Dinge nicht aufzurühren. Auch Südafrika mit seiner Wahrheitskommission wird oft herangezogen. Man darf allerdings nicht vergessen, dass in beiden Fällen die Unterdrückten gewonnen haben. In Spanien haben die GegnerInnen der Diktatur gewonnen – die Diktatur wurde abgeschafft. Und in Südafrika haben die Schwarzen gewonnen, die Weißen mussten aus ihren Machtpositionen zurückweichen und das Apartheidsystem wurde abgeschafft.
Im Falle Algeriens sind hingegen die handelnden Personen an der Macht geblieben. Es ist zwar eine stufenweise Änderung vom früheren Einparteiensystem zu einem Mehrparteiensystem erfolgt und eine schrittweise Liberalisierung der Verhältnisse durchgeführt worden. Trotzdem können diese Politiker kaum offen und ehrlich über jene Untaten, die ihre eigenen Leute begangen haben, sprechen. Vor diesem Hintergrund wird man früher oder später dazu übergehen müssen, die Geschichte aufzuarbeiten und Verzeihung zu üben.

Zurückdrängen der Armee

Um diese Frage ging es also auch, wie bereits erwähnt, bei unserem Gespräch mit den algerischen Journalisten. Der Herausgeber einer Zeitung entpuppte sich dabei als Wortführer jener, die die Position vertreten haben, dass Algeriens Präsident Bouteflika in zweifachem Sinn immense Fortschritte erzielt hat: zum einen durch das Hinausdrängen der Armee aus der Politik in der ersten Periode seiner Präsidentschaft – die Armee spielt heute nicht einmal ansatzweise eine vergleichbare Rolle wie noch sechs oder sieben Jahren. Und zum zweiten wird in der jetzigen zweiten Periode Bouteflikas die Armee auch schrittweise aus der Wirtschaft hinausgedrängt und damit der unseligen Verquickung von Unternehmertum und Armeespitze ein Ende gesetzt.
Besagter Journalist meinte, in der kommenden, also dritten Amtsperiode von Bouteflika, könnte auch eine Justizreform erfolgen, die ebenfalls bereits begonnen habe. Immer mehr Menschen, auch solche mit hohen gesellschaftlichen und politischen Positionen, würden bereits vor Gericht gebracht – was früher unmöglich gewesen sei.

Wo bleibt die freie Gesellschaft?

Andere Journalisten haben dem entgegengehalten, das noch weit mehr zu tun sei und man das bereits Geschehene keinesfalls überschätzen sollte. Sie beklagten, dass vor allem der Übergang zu einer wirklich freien Gesellschaft nicht ernsthaft vorbereitet wird. Ebenso wenig wie der Übergang für die Zeit nach Bouteflika. Zudem wurden auch die teilweise starken islamischen Tendenzen innerhalb der Gesellschaft kritisiert – auch wenn in diesem Zusammenhang nicht die Rede von einem starken Druck auf die Medien war.

Algier, 18.2.2007