Die EU ist nicht die Sowjetunion

Viele Letten wollen die kurzen Jahre der Unabhängigkeit in der Zwischenkriegszeit und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht in einer neuen Union verschwinden sehen.
Schweden hat abgestimmt – über den Beitrag zur Eurozone. Mit überraschender Deutlichkeit hat sich die Bevölkerung gegen den Euro ausgesprochen.

Ein lachendes und ein weinendes Auge

Mich schmerzt dieses Ergebnis nicht nur für Schweden selbst, sondern auch für die EU insgesamt. Ich fürchte ein verstärktes Zaudern und Zögern mehrerer Länder bei den Beratungen über den Verfassungsentwurf, den der Konvent ausgearbeitet hat. Und da dieser nach den Beratungen der Regierungschefs auch in den neuen und alten Mitgliedsländern gutgeheißen („ratifiziert“) werden muss, kann man es den Regierungschefs kaum verwehren, dass sie mutlos und angstvoll an die Sache herangehen, obwohl gerade Mut und Führungsbereitschaft notwendig wäre.
Die ebenfalls gestern durchgeführte Abstimmung über den Beitritt Estlands zur EU ist hingegen sehr positiv ausgefallen, obwohl dort lange Zeit eine große Skepsis geherrscht hat. Jetzt fehlt nur noch ein Land, das sich entscheiden muss: Lettland.

Mitten in Europa

Auf Einladung der lettischen Sozialdemokraten fuhr ich Freitag Abend nach Riga. Die Hauptstadt dieses kleinen baltischen Staates ist äußerst reizvoll und die alte Bausubstanz im Stadtkern, aber auch in manch anschließenden Stadtteilen ist gut erhalten. Schon am Abend nach der Ankunft fielen mir die vielen Jugendlichen auf den Straßen bzw. in den Straßencafes auf. Ich habe kaum jemals soviel junge, fröhliche Menschen im Zentrum einer Stadt gesehen. Hier ist genauso Europa wie in Paris, Berlin oder Wien und es wäre geradezu grotesk, würden sich die Menschen dem Beitritt zur Europäischen Union verweigern.
Aber viele sind noch skeptisch. Eine oft gehörte Frage bei den Versammlungen am nächsten Tag in Riga und im 45 Kilometer entfernten Jelgava bezog sich auf den Unterschied zwischen der Europäischen Union und der Sowjetunion. Lettland hat ja wie viele Staaten in seiner Nachbarschaft, eine sehr bewegte Geschichte und war sowohl Teil des Zarenreiches als auch später der Sowjetunion – nach dem Stalin-Hitler Pakt. Schon im Zarenreich gab es Aufstände sowohl gegen die autokratische Herrschaft der Zaren, als auch für die Unabhängigkeit. Die lettischen „roten Schützen“ werden vielfach sogar als die eigentlichen Verursacher der russischen Revolution betrachtet. Ihr Denkmal steht gleich neben dem Museum über die russische Okkupation.

Vage Skepsis

Viele wollen jedenfalls die kurzen Jahre der Unabhängigkeit in der Zwischenkriegszeit und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht in einer neuen Union verschwinden sehen.
Natürlich habe ich versucht, die Unterschiede zwischen der Europäischen Union und der Sowjetunion ausführlich darzustellen. Dabei habe ich die EU nicht als Paradies geschildert. Aber gerade einem armen kleinen Land könnte viel geholfen werden, materiell und psychologisch, um dessen Selbstbewusstsein und Unabhängigkeit zu stärken. Der kommende Samstag wird zeigen, ob die Befürworter oder die Gegner überzeugender waren.

Innere Spannungen

Der Beitritt Lettlands könnte auch helfen, die inneren Spannungen in diesem Land zu überwinden. Denn nur 52 Prozent sind Letten ethnischen Ursprungs. 35 Prozent sind russischer Herkunft. Darüber hinaus gibt es auch noch viele andere Minderheiten (Ukrainer, etc.). Selbst die Letten russischer Herkunft sind keine homogene Gruppe. Einige haben sich schon vor längerer Zeit in diesem Land angesiedelt, andere wieder sind mit der sowjetischen Besatzung und Herrschaft gekommen.
Es ist offensichtlich, dass vor allem diese zweite Generation für viele ethnische Letten ein „Problem“ darstellt, vor allem in den jenen Städten, wo sie die Mehrheit stellen. Insbesondere die ursprünglich extrem schwierigen Bedingungen, die lettische Staatsbürgerschaft zu bekommen und die Ablehnung der lettischen Unabhängigkeit durch einen Teil der Minderheiten haben dazu geführt, dass noch heute 20 Prozent der Bevölkerung nicht die lettische Staatsbürgerschaft besitzen.
Ich hoffe, die EU kann gemeinsam mit allen Betroffenen diese Spannungen überwinden.
Wien, 15.9.2003